Noah
Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist es schon hell. Ungewöhnlich hell. Ich greife nach meinem Handy, das neben mir auf dem Nachttisch liegt und schrecke beim Blick auf die Uhrzeit zusammen. 4 Anrufe in Abwesenheit. Drei Nachrichten von Sofia, die immer wortkarger werden: "Wo bleibst du? Meine Mutter ist am Durchdrehen" (10:21), "Noah!!! Wo bist du?" (10:44) und zuletzt nur "???" (11:02). Scheiße. In all der Eile von gestern Nacht muss ich vergessen haben, den Wecker für heute zu stellen. Es ist kurz nach elf, und ich hätte schon seit ungefähr einer Stunde auf der Arbeit sein sollen.
Ich ziehe mir die ersten Sachen an, die mir in die Hände fallen und greife mir auf dem Weg zur Haustür einen Müsliriegel aus dem Küchenschrank. Wenn ich noch länger trödle, muss ich mir bald einen anderen Job suchen. Ich zerre mein klappriges Rad aus der Garage – zum Café sind es fünf Minuten. Hinter der nächsten Ecke kann ich schon die grünen Fenster des Vogelnests erahnen. Das Café schmiegt sich fast reibungslos in seine grüne Umgebung, aber nur fast.
Ich schwinge mich vom Sattel und stelle mein Rad an der Seite des Gebäudes ab, dort, wo es von den Ästen der umstehenden Bäume verborgen ist. Sofia kommt mir schon entgegengerannt.
"Wo bleibst du?", fragt sie aufgeregt und lässt ihren Blick von oben nach unten über mich wandern. "Hattest du einen Unfall?"
Ich runzele die Stirn. "Nicht nett, Sof. Ich erzähl's dir später, ich will nicht, dass deine Mutter mir den Kopf abreißt."
Sie verdreht die Augen. "Na gut." Sie will schon reingehen, aber hält dann noch ein letztes Mal inne. "Ich hab 'ne Bürste dabei, liegt im Hinterzimmer. Nur für den Fall, dass du wirklich nicht willst, dass meine Mutter dir den Kopf abreißt."
"Danke für den Tipp." Ich folge ihr ins Café und sehe in der Reflexion der Scheiben mein Spiegelbild. Ich hatte schon wirklich bessere Tage.
***
Der Sonntag scheint sich ins Unendliche zu strecken. Meine Haare sehen selbst nach dem Kämmen noch scheiße aus, und die Leute, die ich bedienen muss, sind heute unerträglich. Das Vogelnest ist das einzige Café in einem Umkreis von 10 Kilometern, und dementsprechend reicht die Kundschaft von den Leuten, die sich selber keinen Kaffee kochen können bis hin zu all denen, für die das Café nur aus Bequemlichkeit gut genug ist.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie zwei neue Gäste den Laden betreten und drehe mich um, um neuen Kaffee aufzusetzen. Es sind zwei Freundinnen, ungefähr in meinem Alter, die sich unauffällig in der hinteren Ecke des Cafés, in der Nische direkt am Fenster, niederlassen.
Ich streiche meine Schürze glatt und nähere mich ihrem Tisch, versuche das Gesicht der Blonden zuzuordnen. Ich bin mir sicher, ich habe sie schon mal irgendwo gesehen. Bianca...Irgendwas. Ich habe mal in Bio hinter ihr gesessen.
"Hey, wisst ihr schon, was ihr bestellen möchtet?", frage ich so gut gelaunt wie möglich und positioniere mich vor ihrem Tisch. Ihre kurzhaarige Freundin, die ihr gegenüber sitzt, ist noch in die Speisekarte vertieft. "Ähm, ja, ich nehme nur einen Cappuccino und ein Stück Kirschstreusel", antwortet Bianca. Ich glaube nicht, dass sie mich erkennt.
"Für mich das gleiche", sagt ihre Freundin beiläufig und blickt von der Speisekarte auf. Ich erstarre und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Es ist sie.
"Alles klar, kommt sofort", nicke ich und drehe ihnen den Rücken zu. Als ich, an der Bar angekommen, den Siebträger befülle, kann ich die Kurzhaarige aus der Entfernung mustern.
Kein Zweifel, das ist das Mädchen, mit dem sich Ellie gestern gestritten hat. Sie hat die selben kurzen, schwarzen Haare, die selbe schlaksige Statur. Die selbe leicht kratzige Stimme.
***
"Du hörst mir nicht zu!", höre ich Ellie schreien. Ich weiß, dass es Ellie ist, weil ich sie von Fotos kenne. Von Instagram, von Davids Erzählungen.
"Was?", fragt ihre Freundin, die Kurzhaarige, "Wieso fängst du immer wieder damit an? Ist ja nicht so, als ob wir gemeinsam beschlossen hätten-"
"Ina, bitte. Du weißt, dass ich das nicht so meine! Ich hab nur gesagt, dass ich-"
"Dass du nicht mit mir studieren willst? Dass du nicht mit mir - zusammen, wie es geplant war - in eine Wohnung ziehen möchtest? Das hast du doch gesagt, oder?"
"Ja, aber-", Ellie streckt ihre Hände nach ihr aus, versucht sie, zurückzuziehen.
"Okay, das ist alles, was ich wissen muss." Ihre Freundin entzieht sich ihrem Griff.
"Ina!", schreit Ellie, jetzt halb am Weinen. "Ina, du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe!" Aber Ina ist schon aus dem Raum gestürmt, vorbei an mir, und hat sie alleine im Zimmer zurückgelassen. Ich wende mich zur Seite, damit sie mein Gesicht nicht sehen kann.
Ich hätte gar nicht hier sein sollen. Eigentlich habe ich das Klo gesucht – das Haus der Sichelmans ist riesig und verwinkelter, als auf den ersten Blick ersichtlich – und nun fühle ich mich fast schon schäbig, so eine intime Konversation belauscht zu haben.
Durch den offenen Spalt in der Tür kann ich sehen, dass Ellie in sich zusammen gesunken ist. Sie sieht ganz klein aus, klein und verzweifelt und so gar nicht wie die Ellie, die David mir beschrieben hat. In Davids Erzählungen ist Ellie vorlaut und wahnsinnig witzig. Aber generell ist sie ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe.
Als David mir das erste Mal von seiner älteren, lesbischen Schwester erzählt hat, habe ich mir eine tätowierte, muskulöse Frau mit raspelkurzen Haaren vorgestellt. Nicht, dass ich schon viele Lesben kennengelernt hätte – obwohl ich mir ein paarmal die Ellen Show angeschaut habe –, aber Ellie hatte so gar nicht in das Bild gepasst, das sich mein inneres Auge aus Davids Geschichten zusammengebastelt hatte.
Ellie war hübsch. Auf den ersten Blick hätte ich sie nie als Lesbe eingeschätzt – mit ihren langen, braunen Haaren und den zarten Gesichtszügen wirkte sie viel zu feminin, um etwas mit einer anderen Frau anfangen zu können. Insgesamt war ich mir unsicher, wie so etwas funktionierte. Ina, die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren, musste ihre Freundin sein. Sie passte schon eher in mein Bild.
Meine Überlegungen werden unterbrochen, als ich Ellie aufstehen sehe. Schnell trete ich von der Tür zurück, reiße meinen Blick vom Ort des Geschehens ab und drehe mich um, als sie an mir vorbeistürmt.
Aus dem Wohnzimmer höre ich sie rufen: "Wer hat Bock auf ein Trinkspiel?" Sie klingt erstaunlich gefasst, beinahe waghalsig. Ihrer Frage folgt zustimmendes Gegröle. Ich schleiche mich ins Wohnzimmer und mische mich unter Davids Freunde.
"Flaschendrehen?", schlägt einer der Jungs vor. "Dafür brauchen wir aber eine leere Flasche", lacht David. Ich drängle mich durch die Menge zu ihm, hake mich in seinem Arm ein. "Oh, hey Maus, ich hab dich schon gesucht."
"Ich musste mal", entschuldige ich mich. David strahlt mich an und sieht dann in die Runde: "Oh, apropos, hey Leute, das hier ist Noah, meine Freundin." Meine Wangen glühen. "Hi", bringe ich gerade so heraus und vermeide es dabei, seine Freunde anzusehen.
"Das ist Ellie", stellt er jetzt seine Schwester vor. Ellie kann nicht antworten, sie hat eine Flasche Bier zu ihren Lippen geführt und trinkt es in einem Schluck. Ich verziehe mein Gesicht und sie setzt die Flasche ab: "Hier ist eine Flasche."
"Du bist also Davids Neue", sagt sie dann und zieht eine Augenbraue hoch. Ich versuche, den Unterton in ihrer Stimme nicht allzu persönlich zu nehmen und kontere: "Und du bist also die Lesbe."
"So sieht's aus." Sie rülpst. "Also, Flaschendrehen? Du machst auch mit, oder, Noah?"
"Na klar macht sie das", antwortet David für mich und klopft mir auf die Schulter. "Na klar mach ich das", entgegne ich ihr.
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Noah &
RomanceAls Noah ihren Freund zu dessen Geburtstagsparty begleitet, rechnet sie mit vielem - nur nicht mit Ellie, Davids älterer Schwester, die nicht nur lesbisch, sondern auch wahnsinnig einschüchternd ist. Als die beiden sich beim Flaschendrehen näher kom...