23 - Tee

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Ellie

"Wo warst du so lange?" Ina schaut mich komisch von der Seite an, als ich das Esszimmer betrete. Ich drücke meiner Mutter die Dose Birnen in die Hand, ohne auf ihre Frage einzugehen.

"Wir reden später", flüstere ich Ina zu, als ich mich wieder neben sie an den Tisch setze. Auf dem Tisch steht schon eine große Schüssel Schokopudding, die Dad mit einem großen Löffel auf kleinere Schüsseln verteilt.

"Also, ähm, ist Noah schon gegangen?", räuspert er sich. Ich spüre, dass alle Augen auf mich gerichtet sind – Ina, Dad, David, selbst meine Mutter, die gerade über der Spüle das Birnenwasser abgießt. "Ihr ging's nicht so gut", antworte ich wenig einfallsreich.

"Vielleicht doch eine Gastroenteritis", mutmaßt Dad und zuckt mit den Schultern, "Die Arme. Dabei hatte der Abend so gut angefangen."

"Ja, wirklich schade." David blinzelt mich an.

"Ach, halt die Schnauze", blaffe ich ihn an.

"Ellie!" Meine Mutter sieht mich vorwurfsvoll an. "Nicht, wenn wir Gäste haben. Was ist nur los mit euch?"

"Das kannst du El fragen", sagt David und lächelt gekünstelt, "Oder Noah, wo die beiden doch jetzt so gut befreundet sind."

"David, was für Differenzen ihr auch haben mögt, sie gehören nicht an den Esstisch." Diesmal ist es mein Dad, der einschreitet.

"Schön", schnaubt David. "Dann gehöre ich wohl auch nicht hier hin." Er steht auf und knallt seine Schüssel mit Schokopudding im Vorbeigehen in die Spüle. "Guten Appetit!", ruft er uns spöttisch zu, bevor die Tür hinter ihm zuknallt. Neben mir verdreht Ina die Augen. "Drama Queen", seufzt sie und fängt an, sich etwas von dem Birnenkompott, das Ma während Davids Tobsuchtsanfall zubereitet hat, auf ihren Pudding zu löffeln. Trotzdem kann sie ein Grinsen nicht zurückhalten. Ich weiß, dass die Situation gerade für Ina so unterhaltsam ist wie Trash-TV zur Primetime.

Meine Mutter seufzt laut. Für einen Moment sieht sie aus, als würde sie noch etwas sagen wollen, aber dann gibt sie auf und lenkt das Thema wieder auf den Pudding: "Also, Nachtisch?"

***

Sobald wir das Haus verlassen haben, ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Noah hat mir zwei lange Nachrichten geschrieben und einmal versucht, mich anzurufen. Anscheinend hat sie sich in einem unauffälligen Moment aus dem Haus geschlichen und ist schon wieder zu Hause. Ich bringe Ina nach Hause und komme dann zu dir, schreibe ich ihr und nur ein paar Sekunden später flammt ihr Okay auf meinem Handydisplay auf.

"Also, das war...puhh", sagt Ina und lacht, als wir die Haustür hinter uns zuziehen. "Auf jeden Fall spannend."

Ich verdrehe die Augen. "Hätte das sein müssen?", frage ich sie. Ich habe ihr ihre Bemerkung Noah gegenüber immer noch nicht verziehen.

"Ich hab keine Ahnung, was du meinst", sagt sie unschuldig und klimpert mit den Wimpern, "Außerdem, hat es dich und Noah nicht näher zusammengebracht? Insofern war ich also im Auftrag der Liebe unterwegs gewesen. Amors persönlicher Gesandter, quasi."

"Ina!", sage ich vorwurfsvoll. Sie ist unmöglich.

"Was, habe ich Unrecht?", sie grinst, "Ich kenne doch den Ellie-Sexblick. Sag mir nicht, dass du tatsächlich 'eine Minute für dich' brauchtest." Mit ihren Händen malt sie Anführungszeichen in die Luft. Ich zucke mit den Schultern: "Das tut nichts zur Sache."

"Ouh, hast du die kleine Hete also rumgekriegt?", säuselt sie.

"Ina, hör auf!" Irgendetwas an ihrem Tonfall macht mich wirklich wütend. Es ist so, als würde sie Noah und mich kein Stück ernst nehmen. Es verletzt mich. Wir sind vor dem Haus von Inas Eltern angelangt und ich habe mich wieder ein bisschen beruhigt. "Lass uns... einfach wann anders drüber reden, okay?", frage ich sie erschöpft und umarme sie. Sie legt ihren Kopf schief und sieht für einen Moment aus, als wolle sie protestieren, aber dann nickt sie.

"Viel Spaß noch, Ellie." Sie drückt mich und zwinkert mir zu. "Schlaf gut mit... ach egal."

Noah

Als ich nach Hause komme, bin ich überrascht, dass Dad noch wach ist. Er hat zurzeit meistens Frühschicht, also ist er für gewöhnlich schon um kurz nach 9 im Bett, doch heute scheint ihn irgendetwas wachzuhalten. Als ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen lasse, streckt er den Kopf aus dem Wohnzimmer: "Oh, hey, Noey."

Ich knirsche mit den Zähnen und nicke ihm zu. Noey. Wenn er mich so nennt, fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Ich habe das Gefühl, ich habe nichts mehr mit Noey von damals gemein. Aber irgendwie habe ich auch nichts mehr mit der Noah von vor einem Monat gemeinsam, also ist das vielleicht ganz normal. Trotzdem macht es mir Angst. Veränderung. Vor einem Monat war ich glücklich in meiner Routine, oder?

"Willst du einen Tee?", frage ich Dad und höre ihn aus dem Wohnzimmer "Gerne" rufen. Ich setze also Wasser auf und während der Wasserkocher blubbert, habe ich Zeit, den Abend Revue passieren zu lassen. Ellie in der Vorratskammer. Ellie, wie sie mich berührt. Irgendwie ist es das einzige, an das ich denken kann. Das, und an David.

Wenn David mich angefasst hat, hat es sich nie so angefühlt. Ich will es nicht wahrhaben, aber unterbewusst weiß ich, dass es stimmt. Macht mich das jetzt zu einer Lesbe? Selbst das Wort in Gedanken auszusprechen, kostet mich Überwindung. Es fühlt sich fremd an. Ich habe David geliebt, oder? Ich finde David attraktiv. Das heißt, ich kann eigentlich keine Lesbe sein.

Das Wasser kocht jetzt und ich befülle unsere Tassen, in denen bereits Teebeutel hängen. Als ich damit ins Wohnzimmer gehe, sehe ich, dass mein Dad gar kein Fernsehen schaut. Er sieht mich erwartungsvoll an und deutet mir, sich neben ihn auf die Couch zu setzen. "Also, dieses Mädchen, Ellie?"

Ich stelle die Tassen auf dem Couchtisch ab und schlucke. Suche in seinem Gesicht nach einer Regung, aber es sieht aus wie immer. Freundlich, mild. Vielleicht ein klitzekleines bisschen neugierig. "Wir verstehen uns gut", sage ich. Ich will ihn nicht anlügen. "Sie ist Davids Schwester."

"Das hab ich mir gedacht", sagt Dad und lächelt. "Aber du weißt, dass ich das nicht fragen wollte. Noey, du weißt, du kannst mit mir über alles reden." Ein Unterton schwingt in seiner Stimme mit, und ich weiß, dass er an Mom denkt. Mom. Ich fühle mich schuldig, dass ich lange nicht mehr an sie gedacht habe. Sie verdient es nicht, vergessen zu werden. Aber in letzter Zeit hatte ich einfach andere Sachen im Kopf.

"Ich weiß, Dad." Ich lehne mich vor und wärme meine Finger an meiner Tasse. "Ich will ja." Die Wahrheit. "Es fällt mir nur schwer." Ebenfalls die Wahrheit. Ich kann ihn dabei nicht mal ansehen. Dad legt mir eine Hand auf den Rücken.

"Ist okay, Noey. Du nimmst dir alle Zeit, die du brauchst." Er räuspert sich. "Ellie scheint mir ein nettes Mädchen zu sein."

"Ja, das ist sie." Zumindest meistens. Am liebsten würde ich ihm alles erzählen, was mit David passiert ist, was mit Ellie passiert ist, von heute Abend (minus der Abstellkammer). Aber ich kann nicht. Ich kann es einfach nicht. "Ellie kommt später noch vorbei", bringe ich schließlich heraus, meine Augen weiterhin auf die Teetasse gerichtet. "Ist das okay?"

Endlich schaffe ich es, ihn anzusehen, suche in seinen Augen nach Einverständnis. Dad nickt. "Ich will nur, dass du glücklich bist", sagt er dann und ich weiß, dass es nicht auf Ellies Besuch bezogen ist. Ich blinzle schnell meine nassen Augen weg.

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt