Epilog

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Noah

Es ist der 17. Oktober, ein Montag. Vor genau 11 Wochen hat Ellie mich verlassen. Ich sage verlassen, als hätte sie sich in einer dramatischen Geste von mir getrennt, aber die Wahrheit ist viel schlimmer. Sie hat sich nie offiziell verabschiedet, stattdessen ist sie mit jedem Tag ein Stück mehr aus meinem Leben verblasst, als hätte es sie nie darin gegeben. Nach meiner Abschlussfeier im Juni habe ich sie nur zwei Mal gesehen, obwohl sie nur von einem Mal davon weiß.

Das erste Mal habe ich mich dazu hinreißen lassen, mich mit ihr zu treffen, ungefähr eine Woche nach meiner Abschlussfeier. Bis dahin war es mir gelungen, alle ihre Anrufe und Nachrichten zu ignorieren, selbst die, die sie mir über meinen Dad oder David – David! – ausrichten lassen hatte. "Gib mir wenigstens eine einzige Chance, mich zu erklären", hatte sie mir geschrieben, "Dann lass ich dich in Ruhe, versprochen. Bitte, Noah. x Ellie." Sie hatte nicht mehr Ich liebe dich geschrieben, seitdem ich am Abend meiner Abschlussfeier heulend weggerannt war. Stattdessen war es jetzt x Ellie, irgendwie förmlich, aber mit dem kleinsten bisschen Romantik bewahrt im x als Stellvertreter für einen metaphorischen Kuss.

Ich hatte mir alle ihre Erklärungen angehört und keine für gut genug befunden, um ihr ernsthaft Glauben zu schenken. "Lass es einfach, Ellie", hatte ich sie angefaucht und war, wie schon bei unserem letzten Treffen, davongerannt. Danach hatten die Anrufe und Nachrichten tatsächlich aufgehört. Wenn man mitbekommt, dass sich jemand seinem Leben entzieht, dann ist das ein bisschen so, wie das eigene Herz in Zeitlupe brechen zu sehen. Natürlich hatte ich geweint und natürlich hatte ich nicht ernsthaft gewollt, dass sie geht, aber Ellie schien es so furchtbar leicht zu fallen, sich mit ihrer Abwesenheit jeden Tag ein Stückchen mehr aus meinem Leben zu entfernen! Ich hatte erwartet, dass sie für mich – für uns – kämpfen würde.

Was mich zu dem Tag bringt, an dem ich Ellie das letzte Mal gesehen hatte: Der Tag, an dem sie das Land verließ, um ihre wahre Bestimmung zu finden oder was auch immer. Ich hatte in den Büschen vor dem Haus der Sichelmans gelungert – nicht mein stolzester Moment – und dabei zugesehen, wie Ellie ihren großen, schwarzen Koffer in ihr Auto hievte. Eine kurze Umarmung von David und ihren Eltern, dann war sie auch schon weg gewesen. Ohne viel Trara, ohne dramatischen Abschied. Genau so stumpf, wie sie mich zurückgelassen hatte.

Das ist jetzt genau 11 Wochen her. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, die Tage nicht zu zählen und mein Leben einfach weiterzuleben, und für den größten Teil gelingt mir das gut. Ich habe mir meinen Wochenplan vollgepackt mit Kursen, nicht nur, weil ich mein Studium dadurch voraussichtlich früher als vorgesehen abschließen kann, sondern auch, weil mich das die meiste Zeit sehr gut von etwaigen Gedanken an Ellie ablenkt. Trotzdem kommt es vor, dass ich in Momenten wie diesen, in denen ich eine kurze Pause zum Durchatmen habe, nicht anders kann, als mich zu fragen, was sie jetzt wohl gerade macht. Ob sie auch an mich denkt?

Ich verscheuche den Gedanken, bevor der Klumpen in meinem Magen sich verfestigen kann, und schlage den dicken Pschyrembel auf, der vor mir liegt. Meistens ist das doofe Buch ganz gut darin, mich abzulenken, also lese ich den ersten Absatz, der mir ins Auge springt. "Phantomempfinden (frz. fantôme Trugbild, Sinnestäuschung): (engl.) Phantom feeling; Projektion von Empfindungen in ein nach Amputation nicht mehr vorhandenes Körperteil, das jedoch als noch vorhanden erlebt wird." Na super. Ich zücke mein Handy und schicke Sofia ein Foto von der Seite. Nur wenige Sekunden pingt ihre Antwort auf meinem Display auf.

"Du musst damit aufhören."

Ich tippe zurück: "Womit?" und die Antwort kommt sofort. "Damit, dich selber fertig zumachen. Und damit, an sie zu denken. Du weißt, ich hab Recht." Sie hat Recht. Und trotzdem kann ich nicht aufhören, Phantomempfinden für Ellie zu fühlen, wenn mein Kopf auch nur eine freie Minute hat, als sei sie ein Körperteil, der mir gewaltsam abgehackt wurde.

Ich vermisse Sofia und ich vermisse es, sie hier zu haben, in dieser fremden Stadt, in der ich niemanden kenne außer David und Ina und ein paar von Ellies Freunden, denen ich ein einziges Mal, seit ich hier bin, über den Weg gelaufen bin. Ich habe ihre Blicke in meinem Rücken gespürt und bin an ihnen vorbei gegangen, als seien sie Fremde. Feige, hatte die Stimme in meinem Kopf mir zugerufen, aber ich hatte nicht die mentalen Kapazitäten dafür gehabt, schon wieder an Ellie erinnert zu werden. Und was Sofia angeht: Die hatte sich ein Freisemester genommen, was soviel heißt wie, dass sie erst im Frühjahr anfangen wird, zu studieren. Manchmal bin ich neidisch auf sie – oft vermisse ich das Vogelnest –, aber meistens bin ich froh, dass ich nicht so viel Zeit mit meinen eigenen Gedanken verbringen muss.

"Hey." Ich höre eine vertraute Stimme über mir und wende mich von meinem Handy ab. "Oh." Mein Gesichtszüge entgleiten mir, als ich David sehe. Er sieht gut aus. Seine Haare sind kürzer und heller und obwohl der Spätsommer längst Herbst geworden ist, ist seine Haut immer noch ein bisschen gebräunt. Wann habe ich ihn das letzte Mal gesehen? Wahrscheinlich an dem Tag, an dem ich auch seine Schwester zuletzt gesehen habe, obwohl ich das Gefühl habe, dass mich Davids Schatten in dieser Stadt verfolgt. Aber vielleicht ist es auch nur mein eigenes Gehirn, das aus Männern mit langen Haaren automatisch David macht, selbst wenn sie ansonsten keine Ähnlichkeit mit ihm haben. Pareidolie nennt man das, wenn man selbst in Unbekanntem Bekanntes sieht.

"Wie geht's?" David setzt sich neben mich an den Tisch. "Ich hab dich vor ein paar Tagen schonmal hier gesehen und gedacht, ich spinne. Aber du studierst ja auch hier, richtig?" Er lächelt mich an.

Es ist seltsam. Wir verhalten uns wie ferne Bekannte – als wüsste David nicht ganz genau, was schon seit Ewigkeiten meine Pläne gewesen wären. Auf eine Weise hilft es mir, dass er mir mit solch einer Distanz begegnet. Es fühlt sich normal an, freundlich, unkompliziert. Und unkompliziert ist jetzt genau das, was ich brauche. Ich lächele zurück. "Ja, genau. Die Hälfte der Zeit weiß ich immer noch nicht genau, wo ich hin muss, der Campus ist einfach zu groß!" Ich zwinge mich dazu, energiegeladen und aufgeregt zu klingen. Wie eine Studentin, die die erste Uniwoche gerade erst hinter sich hat und sich auf ihr Studium freut, nicht wie ein Mädchen, das immer noch ihrer Ex-Freundin hinterher trauert.

David geht darauf ein. "Ach, das wird schon. Wenn du willst, geb ich dir eine Führung!", sagt er und zwinkert. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich durchschaut, aber falls er es tut, lässt er sich nichts anmerken.

"Ja, das wäre nett", sage ich erleichtert.

"Apropos", sagt er dann, "Also, nur wenn du Lust hast... aber heute Abend steigt bei Jona eine kleine Party, quasi zur Feier des neuen Semesters. Wenn du magst, schau vorbei." Es klingt beiläufig, aber ich bin mir nicht sicher, ob es das ist.

Mein erster Impuls ist es, sein Angebot auszuschlagen. Ich habe keine Lust auf eine Party, habe keine Lust auf Menschen, die ich nicht kenne, keine Lust auf Jona, Davids besten Freund, den ich noch nie wirklich mochte. Vor allem habe ich keine Lust auf ihre Fragen, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Davids Freunde darüber informiert sind, was seit Ende letzten Jahres alles passiert ist. Aber dann denke ich über die Alternative nach – heute Abend alleine in meinem Zimmer, alleine mit meinen Gedanken, dahinzusauern – und überlege es mir anders. "Gerne", antworte ich David freudestrahlend. Vielleicht ist eine Party genau das, was ich gerade brauche. Ablenkung, Alkohol, einfach nicht nachdenken müssen.

"Perfekt." Er sieht zufrieden aus und klopft mir auf die Schulter, als wüsste er genau, wieso ich zugesagt habe. "Ich schick dir später die Adresse, okay?" Ich nicke und im nächsten Moment ist er schon aufgestanden und verschwunden.

Vielleicht wird das Semester doch nicht so schlecht. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich so etwas wie Vorfreude empfinde. Das erste Mal, dass ich mir darüber Gedanken mache, was man zu einer Studentenparty wohl anzieht, anstatt in meinem Kopf eine Dauerschleife von Ellie-Erinnerungen abzuspielen. Vielleicht ist das das universelle Zeichen, das ich gebraucht habe – da würde mir Sof sicher zustimmen, wenn sie jetzt hier wäre. Wahrscheinlich würde sie mir auch sagen, dass es keine gute Idee ist, auf eine Party zu gehen, auf der auch David ist, aber das ist mir egal, es ist ja nicht ihr Leben. Das Leben geht weiter und ich kann ja nicht ewig so tun, als ginge es das nicht.

Ellie ist weg – sie wird noch eine ganze Weile fort sein, und was noch viel entscheidender ist: Sie hat mich zurückgelassen, als wäre es das Leichteste der Welt. Vielleicht wird es jetzt Zeit, dass ich das Gleiche mit ihrer Erinnerung mache. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt