14 - Wiedersehen

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Noah

Zwei Wochen sind vergangen, seit ich Ellie das letzte Mal gesehen habe. Ich muss ihr in diesen zwei Wochen bestimmt etliche Male fast über den Weg gelaufen sein, zumindest nach dem, was David mir erzählt hat.

Am Tag nach Ellies und meinem Treffen hat er plötzlich vor meiner Tür gestanden, meinen Rucksack in einer Hand hochhaltend und ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. "Ich hab dir was mitgebracht, Maus", hat er gesagt, "Wusste gar nicht, dass Ellie und du jetzt so close seid, dass ihr schon Sachen bei der anderen liegen lasst." Ich habe gezwungen gegrinst und ihm den Rucksack abgenommen, ohne ihm zu erläutern, wie close wir uns am Tag davor tatsächlich gekommen waren.

Der Kuss. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, mehr als einmal. Ein paar Mal habe ich sogar das Poster aus meinem Kleiderschrank geholt und mir Ellies Gesicht angeschaut oder zumindest das, was davon unter ihren langen, dunklen Haaren zu erkennen ist. Ich habe sie geküsst. Ich. Warum, kann ich selbst nicht sagen. Und was noch schlimmer ist – es tut mir nicht mal Leid. Ich weiß, eigentlich sollte ich schlimme Schuldgefühle haben, vor allem wegen David. Aber stattdessen ist alles, was ich eigentlich will, mit Ellie zu reden.

Aber ich bin vernünftig, denn sie meidet mich – auch sehr vernünftig – also tu ich es ihr gleich und gehe ihr auch aus dem Weg. Statt also mit Ellie zu reden, rede ich mit Sofia, auch wenn Sof eigentlich viel lieber über Ollie reden würde.

"Ich hab meiner Mutter von Ollie erzählt", erzählt sie mir gerade.

"Ich könnte heute Abend zu David gehen", entgegne ich ihr, "Schauen, ob sie vielleicht heute zuhause ist."

Wir reden aneinander vorbei, aber für den Moment ist das okay. Eigentlich will ich gar nicht wissen, was sie zu Ellie und mir zu sagen hat, weil ich nicht hören will, dass sie mir sagt, ich soll mich von ihr fernhalten. "Du bist doch sonst immer so vernünftig, Noah", hat sie geseufzt, als ich ihr das mit dem Kuss erzählt habe, "Was hat dieses Mädchen nur mit dir gemacht?"

Sie hat das Poster nicht mehr erwähnt, wofür ich ihr sehr dankbar bin. "Sie hat gar nichts gemacht", habe ich ihr wahrheitsgemäß geantwortet. "Es ist nur..." Ja, was ist es nur, Noah? Ich kann's ja selbst nicht sagen.

"Ich geh heute Abend zu David", wiederhole ich, diesmal entschlossener. "Meine Mutter ist nicht begeistert von der Vorstellung, dass Ollie und ich jetzt ein Ding sind", knirscht sie als Antwort. Wir bleiben noch ein paar Stunden bei ihr und schauen uns alte Gossip Girl-Folgen an, dann verabschiede ich mich und mache mich auf den Weg zu den Sichelmans.

"Maus." David öffnet die Tür, nur knappe fünf Sekunden nachdem ich geklingelt habe. "Was machst du denn hier?"

"Sorry, ich dachte nur-"

"Hey, hey." Er nimmt meine Hände. "Sag nicht sorry, ich freu mich doch immer, dich zu sehen." Ich lächele. Ich habe ihn nicht verdient.

"Das ist lieb." Ich begleite ihn ins Haus, "Du hast, ähm, du hast nicht zufällig Ellie gesehen, oder?"

"Ellie und du...", er schüttelt den Kopf und lacht, "Dass ich mal Konkurrenz von meiner eigenen Schwester bekomme, hätte ich auch nicht gedacht. Sie scheint es dir ja echt angetan zu haben."

"Quatsch", ich schüttele den Kopf und versuche, ihn nicht anzuschauen, damit er meine roten Wangen nicht bemerkt, "Wir haben uns nur länger nicht mehr gesehen."

"Ja...", seine Worte verlaufen sich. "Ich hab das schon bemerkt, Ellie ist auch irgendwie-"

"Irgendwie was?" Hat sie ihm gegenüber einen Kommentar gemacht?

"Ich weiß nicht, irgendwie verändert." Er schließt die Zimmertür hinter sich. "Ist auch egal, vielleicht bilde ich mir das nur ein. Schreib ihr einfach mal, sie war gestern da, vielleicht kommt sie später nochmal."

"Ja, vielleicht mach ich das." Natürlich mache ich das nicht.

"Aber zurück zu uns...", er zieht mich an den Händen näher zu sich, "Wir haben uns auch länger nicht mehr gesehen." Er zieht einen Mundwinkel hoch. "Ich hab dich vermisst." Er küsst mich und sieht mir tief in die Augen. "Ich hab das hier vermisst."

Ich schließe die Augen und versuche, seine Küsse zu genießen, aber ich kann mich nicht entspannen. Seit dem Freitag vor zwei Wochen vergleiche ich jeden Kuss mit dem zwischen Ellie und mir, und David zu küssen ist... anders. Fordernder, wilder, gröber. Vor allem fordernd, weil ich weiß, dass er das tut, selbst wenn er sagt, dass er keine Eile hat, dass er mir alle Zeit der Welt lässt. Seine Hände haben meine Hände losgelassen und sind meinen Körper nach oben gewandert, über meine Taille zu meinen Brüsten. Er beginnt, meine Bluse aufzuknöpfen und küsst erst meinen Hals, dann mein Schlüsselbein.

"David", sage ich sanft und versuche, seinen Kopf von meinem Körper wegzudrücken. "David, nicht-"

"Nicht was?" Seine Stimme ist ungewöhnlich aggressiv. Im nächsten Moment hat er sie wieder gezügelt: "Noah, ich will dich nicht drängen. Ich würde dich niemals drängen oder zu irgendetwas zwingen."

"Dann tu's nicht", flüstere ich.

"Was?"

"Dann tu's nicht", wiederhole ich lauter.

"Noah, ich-" Für einen Moment ist David sprachlos. "Noah, was ist los mit dir? Wir sind seit- was, über einem halben Jahr zusammen? Ich bin kein ungeduldiger Typ, aber langsam habe ich das Gefühl, dass du-"

"Dass ich was?" Diesmal bin ich wirklich auf seine Antwort gespannt.

"Dass du gar nicht mit mir schlafen willst."

"Was? Das ist doch Quatsch", entgegne ich, "Ich brauch nur-"

"Nein, ich rede nicht von Zeit. Ich rede davon, dass du mich nicht willst. Dass du mich nicht begehrst. Ich meine, Noah, wann hast du je die Initiative ergriffen? Ja, du hast mitgemacht, du hast mich machen lassen, aber so langsam glaube ich wirklich, dass es gar nicht daran liegt, was ich mache oder nicht mache. Sondern an mir generell."

"Was willst du damit implizieren?" Plötzlich ist es so, als würde die Zeit stillstehen. Es ist furchtbar leise im Raum, bis auf meinen eigenen Herzschlag, den ich in meinen Ohren dröhnen höre.

"Es ist Ellie, oder?"

Vor meinen Augen tanzen schwarze Flecken und ich spüre, wie mir wieder die Röte in die Wangen schießt. Ellie. Wieso musste er nur Ellie erwähnen?  "David", sage ich leise, "David, das hat nichts mit..." Ich kann kaum ihren Namen aussprechen.

"WAS zum Teufel ist zwischen euch passiert?", schreit er mich an, als hoffe er, damit zu mir durchzudringen. "Was ist da vorgefallen? Seit zwei Wochen bist du total komisch, irgendwie abweisend, und Ellie ist-"

"David, nicht." Mein ganzer Körper ist heiß und ich habe das Gefühl, dass mein Kopf glüht und jede Sekunde explodiert. Trotzdem bringe ich es kaum zustande, ihm zu antworten, geschweige denn, ihn anzusehen.

"WAS ZUM TEUFEL IST ZWISCHEN DIR UND ELLIE VORGEFALLEN?", brüllt er.

"David, es reicht", sagt eine mir vertraute Stimme. Ich drehe mich um und möchte am liebsten im Boden versinken. Ellie. Und so sehr ich es auch hasse, dass sie gerade hier ist, kann ich es trotzdem nicht verhindern, dass mein Herz einen kleinen Hüpfer macht. Sie sieht so unglaublich schön aus. Ich habe ihr Gesicht vermisst. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt