34 - Geschmolzen

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Noah

Wir stehen vor dem Haus der Sichelmans – ein großes, weißes Haus, das sich pompös vor uns in die Höhe streckt, mit einem schmiedeeisernen Tor, das eigentlich immer offen steht, gut gepflegten Vorgärten zu jeder Seite des Eingangs und einer gepflasterten Einfahrt, die sich elegant in Richtung des Hauses windet. Manchmal frage ich mich, wie es für Ellie gewesen sein muss, in solch einem Haus aufzuwachsen. Sich wahrscheinlich nie darum sorgen zu müssen, dass die Miete nicht mehr bezahlt werden konnte oder der Schulausflug zu teuer war. Für sie war es wahrscheinlich Normalität, von schönen Sachen umgeben zu sein.

Ellie klingelt an der Haustür und es dauert vielleicht eine halbe Minute, bevor die Tür aufschwingt und Davids Gesicht im Türrahmen auftaucht. "Kommt rein", sagt er freundlich, als er uns sieht, und ich versuche an seinem Gesicht abzulesen, ob er es ernst meint. "Ben, hi", sagt er, als er meinen Dad hinter mir und Ellie bemerkt und Dad grüßt ihn zurück. Ach stimmt, die beiden kennen sich ja. Was David angeht, habe ich manchmal das Gefühl, ich hätte selektive Demenz. Als ob mein Gehirn bestimmte Informationen, die es im Zusammenhang mit David und unserer früheren Beziehung gespeichert hat, einfach gelöscht hat, sobald sie nicht mehr relevant waren.

Aber ich will nachsichtig mit David sein, denn wenn das, was Ellie gesagt hat, stimmt, gibt er sich große Mühe, sich mit dem Gedanken von Ellie als meine Freundin abzufinden. Allerdings hat er mir vor nicht mal zwei Monaten seine Liebe gestanden, also... keine Ahnung, wie schnell Gefühle verschwinden können.

Ich folge den anderen ins Esszimmer, in dem Ellies Eltern schon am Esstisch sitzen und plaudern. Als sie uns sehen, stehen sie auf, um erst mich, dann Ellie zu umarmen und schließlich meinem Vater ihre Hand auszustrecken. "Schön, dass ihr kommen konntet", sagt Ellies Mutter Nora mit einem warmen Lächeln. Dad schüttelt ihre Hand.

"Danke für die Einladung", entgegnet er mindestens genauso freundlich. Ich weiß jetzt schon, dass sie sich gut verstehen werden.

Wir setzen uns alle an den Tisch, Ellie und ich nebeneinander, mein Dad und David uns gegenüber, Ellies Eltern je an einem Kopfende des Tisches, und ich habe Zeit, mich im Raum umzusehen. In der Ecke steht ein kleiner, geschmückter Baum – kaum größer als ich –, gedeckt nur mit gefühlt tausend winzigen, funkelnden Lichtern und einem riesigen, glitzernden Stern als Spitze, der Rest des Raumes sieht eigentlich aus wie immer. Wenn wir früher Weihnachten gefeiert haben, sah es in der Wohnung aus, als sei eine Bombe explodiert: Überall kitschige Weihnachtsdeko, Lichterketten, Lametta und kleines glitzerndes Konfetti in Form von bäuchigen Weihnachtsmännern. Die Sichelmans feiern Heiligabend im Gegensatz dazu ziemlich... schlicht.

"Habt ihr alle schon Hunger?", fragt Nora jetzt und blickt in die Runde. Als wir nicken, tischt sie das Essen auf, das sie wohl schon fertig vorbereitet hat und das scheinbar nur darauf gewartet hat, serviert zu werden. Als Vorspeise gibt es Jakobsmuscheln und Pilzcremesuppe, dann als Hauptgang Entenbrust mit Gemüsegnocchi und schließlich, als unsere Mägen kurz vorm Platzen sind, Panna Cotta als Nachspeise. Ich schaufle das Essen in mich herein, als gäbe es kein Morgen, aber schließlich gibt es das nicht jeden Tag, dass man so gut bekocht wird. "Das ist der Wahnsinn", meine ich zwischen zwei Bissen und Nora lacht. "Das ist das beste Kompliment, das eine Köchin hören kann", antwortet sie und gießt mir noch einen Schluck Wein ein. Ich leere mein Glas in einem Schluck, um die Panna Cotta nachzuspülen. Es schmeckt alles so gut. Normalerweise bin ich niemand, der gerne Weißwein – oder generell Wein – trinkt, aber heute schmeckt alles süßer, vollmundiger, intensiver. Ich werfe Ellie einen Seitenblick zu – sie sieht mindestens genauso erschlagen vom Essen aus, wie ich mich gerade fühle.

Nach dem Essen fragt mich Ellie, ob ich Lust auf einen Spaziergang habe. Ich nicke erleichtert. "Postprandiales Koma?", fragt mich Dr. Sichelman mit einem Zwinkern, als wir an ihm vorbeigehen, und ich runzle verwirrt die Stirn. "Was?", flüstere ich Ellie zu. "Ja, Dad", antwortet sie ihrem Vater, "Wir sind gleich wieder da." Dann, als wir unsere Schuhe wieder angezogen haben und die Haustür hinter uns zufällt, meint sie: "Ach, das ist so ein Medizinerwitz. Wenn man gegessen hat, wird man schlapp, oder sowas, sagt er immer."

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt