30 - Offiziell

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Noah

Die heutige Schicht vergeht noch zäher als gewöhnlich, was vielleicht daran liegt, dass eine Nachricht von Ellie auf meinem Handy ein Loch in meinen Hintern brennt. Also, natürlich tut sie das nicht wirklich, aber in meinem Kopf stelle ich mir vor, dass ich die Worte, die sie mir geschrieben hat, durch den Stoff meiner Jeans auf meiner Haut spüren kann. Lass uns später reden, schreibt sie, und ihre Worte lassen meinen ganzen Körper kribbeln. Sofia sieht mir meine innere Unruhe an.

"Willst du früher gehen?", fragt sie mich.

"Darf ich früher gehen?", frage ich sie zurück.

"Natürlich", antwortet Conny, die uns zugehört hat. "Ruh dich aus, Schätzchen. Iss ein bisschen Eiscreme." Ich weiß zwar nicht, wo da die Verbindung mit Eiscreme ist, aber ich nicke trotzdem. "Danke." Ich werfe meine Schürze hinter den Tresen und umarme Sof. "Wir sehen uns morgen", verabschiede ich mich von ihr. In Gedanken bin ich längst nicht mehr beim Vogelnest.

Ich bin mir zwar nicht sicher, was Ellie mit mir bereden will, aber ich habe die ungute Vorahnung, dass es etwas mit David zu tun hat. Wenn jemand einem schreibt, dass man reden soll, ist das nie gut. Reden ist ernst. "Auf dem Weg nach Hause", schreibe ich Ellie und schwinge mich auf mein Rad. Ich fahre am Container vorbei, in den wir vor ein paar Wochen die NOAH KÜSST GERNE MÄDCHEN-Poster geworfen haben. Wahrscheinlich sind sie mittlerweile so vermodert, dass man nichtmal mehr unsere Gesichter darauf erkennen kann.

Als ich in die Einfahrt abbiege, ist Ellie schon da. Sie sitzt auf der Stufe vor der Haustür und steht auf, als sie mich heranradeln sieht. Ihr Gesicht ist halb in der Dunkelheit, halb beleuchtet vom schwachen Licht der Lampe an der Hauswand. "Hey", sagt sie. Ich kann nicht heraushören, ob es ein gutes oder schlechtes Hey ist.

"Magst du reinkommen?", frage ich sie und stelle mein Fahrrad an der Hauswand ab. Sie schüttelt den Kopf. "Schon okay", sagt sie und ich bemerke, dass sie mit dem Fuß auf dem Boden tippelt. Ist sie nervös?

"Okay." Ich versuche, die Gedanken, die meinen Kopf einnehmen wie ein heraufziehendes Gewitter, beiseite zu schieben. Ausatmen, einatmen. Es ist alles gut.

"Also, ähm, David", bricht sie die Stille.

"Du hast das mitbekommen?", frage ich sie. Oh Gott, was hat er ihr erzählt? Ellie nickt und eine dunkle Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht. Für gewöhnlich trägt sie ihre Haare zusammengebunden oder anderweitig hochgesteckt, aber heute trägt sie ihr Haar offen. Es ist ungewohnt, sie so zu sehen; sie wirkt viel jünger als sonst. Noch schöner, falls das überhaupt möglich ist. "Wir haben das geklärt", sagt sie jetzt. Noch immer lässt ihr Gesichtsausdruck keine Schlüsse darauf zu, ob das jetzt etwas Gutes oder Schlechtes ist, was mich nur noch nervöser macht.

"Habt ihr?", frage ich, ohne zu wissen, was das überhaupt ist.

"Er weiß von uns", erklärt Ellie. Ihr Gesicht sieht jetzt ein bisschen sanfter aus. "Und er hat's akzeptiert, auch wenn wir seine... Zustimmung nicht brauchen."

"Oh, wow." Es ist ein sarkastisches Wow, aber es bringt sowohl mich als auch Ellie dazu, zu grinsen. "Heißt das jetzt, wir haben seinen Segen?"

"So in etwa." Ihre Stimme versengt. Die Lampe an der Hauswand geht aus und ich wedele mit den Armen, um den Bewegungsmelder zu aktivieren. Ellie lacht, dann ist es wieder still. Fast erwarte ich, dass in der Ferne Grillen zirpen, auch wenn es dafür längst die falsche Jahreszeit ist.

"Ähm", sagt Ellie in die Stille. Sie sieht aus, als würde sie noch etwas sagen wollen. Jetzt erst fällt mir die lila Strähne in ihrem Haar auf. Seit wann hat sie die denn? Ellie erscheint mir eigentlich nicht als die Art Person, die sich die Haare färbt. "David hat, ähm, gesagt, dass du...", räuspert sie sich dann, "Dass du mich liebst."

Es ist keine Frage. "Oh", sage ich in Ermangelung einer besseren Alternative. Ist jetzt der Zeitpunkt, mich zu rechtfertigen? Oder soll ich ihr bestätigen, dass es stimmt? Stattdessen schaue ich auf meine Füße und beginne, die Pflastersteine zu zählen.

"Du weißt, was ich für dich empfinde", sagt Ellie jetzt. "Ich hab' das ernst gemeint. Und ich will dir keinen Druck machen, N... ich hoffe, das weißt du. Du musst nicht... du musst es nicht erwidern-"

"Ich liebe dich, Ellie." Ich unterbreche ihren Monolog. Die Worte fühlen sich holprig, groß und schwer in meinem Mund an. Sperrig und ungelenk. "Ich liebe dich", wiederhole ich, diesmal flüssiger, und schaue sie dabei an. Es hört sich schon viel natürlicher an. "Und das sage ich auch nicht einfach so. Vorhin bei David ist mir das einfach so..." rausgerutscht. Ich sage es nicht. Ellie lächelt.

"Ich liebe dich", sagt sie dann; die perfekte Antwort auf mein Geständnis. Mit einem Mal ist es, als seien wir verbunden mit einem unsichtbaren Band, das uns zueinander zieht. Die Abendluft ist instantan milder und süßer und meine Hände finden Ellies Gesicht und ziehen es zu meinem. Sie öffnet ihre Lippen und atmet mich ein, und mir wird ganz schwindelig, weil ich an nichts Anderes denken kann als an sie.

Ich denke zurück an unser erstes Zusammentreffen, daran, wie eingeschüchtert ich auf Ellies Präsenz reagiert hatte, und an die blöden Sachen, die ich beim Flaschendrehen zu ihr gesagt hatte. Mir vor Augen zu führen, dass das nicht mal einen Monat her gewesen ist, war ... verrückt.

"Weißt du was?", fällt mir plötzlich ein und ich entziehe mich ihrem Kuss. "Was?", fragt Ellie leise, als wolle sie den Moment nicht zerstören. Sie scheint ähnlich in Trance zu sein wie ich.

"Als du mich das erste Mal geküsst hast, hast du gesagt, du würdest mir versprechen, dich nicht in mich zu verlieben", sage ich und muss lächeln. Ellies Augenbrauen schnellen kaum merklich in die Höhe.

"Das heißt wohl, dass ich nicht besonders gut darin bin, Versprechen einzuhalten", sagt sie dann und lächelt zurück. Ein komisches Gefühl breitet sich in meinem Körper aus. Nicht unbedingt schlecht, nur komisch, so als stände man in einem Aufzug und würde darauf warten, dass der Boden im nächsten Moment für den Bruchteil einer Sekunde unter einem nachgibt. Ich verscheuche den Gedanken. "Ich bin froh, dass es so ist", sage ich dann. Etwas liegt mir auf der Zunge und ich nutze den Moment der Dunkelheit, als sich der Bewegungsmelder wieder ausschaltet, um den Gedanken auszusprechen: "Also, bist du jetzt... meine Freundin?"

Im nächsten Moment macht Ellie eine Bewegung und das Licht geht wieder an, sodass ich mich ihrer Reaktion nicht entziehen kann. Für eine Sekunde sind ihre Gesichtszüge ruhig wie unberührtes Wasser, dann erfasst das Lächeln, das von ihren geschwungenen Lippen ausgeht, ihr ganzes Gesicht und lässt ihre Augen blitzen. "Das wäre ich sehr, sehr gerne, Noah Waller", sagt sie schließlich und besiegelt ihre Aussage mit einem Kuss.

Ich fühle mich, als würde ich von innen leuchten. Als hätte man mich an eine Maschine angeschlossen, die meinen ganzen Körper mit Sonnenschein vollpumpt. Ich bin so unglaublich glücklich. In diesem Moment scheint es so, als hätte nichts von dem, über das ich mir Sorgen mache, irgendeine Bedeutung. Der Streit mit David – geklärt. Meine finanziellen Sorgen – in weiter Ferne. Mein Dad – von Anfang an ein Ellie-Fan. Sofia hat schon öfters gesagt, dass das Universum immer einen Weg findet. In diesem Moment bin ich eine Sofia, ausgestattet mit einem Urvertrauen darin, dass sich alles irgendwie fügen wird. Und das hat es: Jetzt gerade passt jedes Puzzlestück meines Lebens perfekt an das andere. Ich lasse mich fallen und verschmelze mit Ellie, meiner Freundin.

In den letzten paar Wochen habe ich mehr erlebt als vielleicht in meinem ganzen Leben davor, zumindest, seit wir vor etwas mehr als zwei Jahren in diese Stadt gezogen sind. Sofia war mein erster Kontakt hier und so habe ich die letzten zwei Jahre vor allem mit ihr, und zu einem sehr großen Teil im Vogelnest, verbracht. Dann war da David und mit ihm hat sich alles leicht und unbeschwert angefühlt, also war es nur natürlich, dass wir zusammengekommen sind. Und schließlich mein Debüt als seine Freundin auf seiner Geburtstagsparty und damit Ellie, die sich langsam aber sicher den Weg in mein Leben gebahnt und es komplett auf den Kopf gestellt hat.

Ich bin der Hauptcharakter in einer romantischen Komödie, die sich mein eigenes Leben nennt. Ich habe nur einmal geblinzelt und schon ist alles anders: Aus Noah und David ist Noah und Ellie geworden und trotzdem fühlt es sich so an, als sei es nie anders gewesen.

Hier gehöre ich hin, denke ich, als Ellie ihre Hände auf meine Taille liegt. Es gibt Momente, an denen man am liebsten die Pause-Taste drücken würde, in denen man sich wünscht, dass die Zeit stehen bleibt, damit man den Moment noch ein bisschen länger festhalten kann. Der hier gehört definitiv dazu. Genauso soll es für immer sein. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt