3 - Zufall

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Noah

Es ist seltsam, dass man einer Person sein ganzes Leben lang aus dem Weg gehen kann und ihr dann plötzlich überall begegnet. Bis vor zwei Tagen habe ich Ina noch nie gesehen, und in den vergangenen 48 Stunden haben sich unsere Wege schon viermal an vier verschiedenen Orten gekreuzt: Der Streit mit Ellie, ihr Kuss am Fenster, im Vogelnest und nun direkt vor mir in der Schul-Cafeteria. Sie ist überall.

"Hey, hast du dieses Mädchen neben Bianca da schonmal gesehen?", frage ich Sofia und schiebe die Scheibe Ei, die aus der Seite meines Brötchens geflutscht ist, wieder an ihren Platz.

Sofia schaut auf und runzelt die Stirn. "Ina?", fragt sie. "Ich hab mit ihr Chemie. Sie ist cool."

"Verrückt." Also ist sie tatsächlich in unserer Stufe. Wie konnte sie mir nie aufgefallen sein? Ich sehe Ina dabei zu, wie sie sich näher zu Bianca lehnt, ihr gespannt zuhört und dann anfängt, wie wild zu lachen. "Ich hab sie noch nie gesehen."

"Sie ist auch nicht oft da", sagt Sofia geistesabwesend und beißt in ihr Brötchen. "Frag mich nicht wieso, irgendein Drama mit- ehrlich, keine Ahnung."

"Mhh", nicke ich ihr zu. Schweigend kauen wir unser Mittagessen. "Vor zwei Tagen hab ich sie das erste Mal gesehen, und seitdem laufen wir uns dauernd zufällig über den Weg", sage ich dann.

"Zufall", schnaubt Sofia neben mir, "Phh. Ich bin der Meinung, die Menschen, die von Zufall reden, haben keine Ahnung." Sie beißt ein großes Stück von ihrem Brötchen ab.

"Wie meinst du das?"

"Naja, ist doch viel zu einfach, oder? Zu sagen, es wäre Zufall, wenn mal was passiert, das super unwahrscheinlich ist. Ich bin da kein Fan von."

"Vom Zufall?"

"Jap." Sie erläutert es nicht näher. Ich grinse. Sofia ist ein bisschen esoterisch, das war sie schon immer. Für sie erschließen sich die Dinge ganz einfach, vielleicht gerade deshalb, weil sie für so vieles offen ist. In ihrem freien Geist hat alles einen Platz, ergibt alles einen kosmischen Sinn.

Mit einem Seufzer wende ich mich wieder meinem Brötchen zu. Wenn ich doch nur ein bisschen mehr wie Sofia wäre. Das würde mein Leben deutlich entspannter machen.

Ellie

Wir haben uns ausgesprochen, aber ich weiß, dass es nur ein Waffenstillstand ist. Wir beide sind uns bewusst, dass wir dem Thema nicht ewig aus dem Weg gehen können. Aber bis das Schuljahr vorbei ist, werden noch einige Monate vergehen und ich habe nicht vor, diese mit Streiten zu verschwenden.

"Ina!" Ich winke ihr zu, als ich sie in der herausströmenden Schülermasse entdecke. Schon von Weitem sieht sie wahnsinnig schön aus, irgendwie punkig und cool mit dem ärmellosen schwarzen Tanktop, das sie heute trägt, und ihren kurzen Haaren. Heute hat sie sich mit grünem Eyeliner ein Schachbrettmuster auf die Augenlider gemalt – als sie auf mich zuläuft, klimpert sie mit den Wimpern, damit ich es bemerke und ihr die nötige Aufmerksamkeit schenke.

"Wow, Baby", hauche ich ihr zu und küsse sie. Sie schmeckt nach Erdbeerbonbon. Ina lächelt zufrieden. "Hast du mich vermisst? Ich kann dir so viel erzählen, ich-"

Doch ich höre ihr nicht mehr zu. Sie schon wieder. Es ist Noah, Davids neue Freundin. Nur zwei Meter von mir entfernt lehnt sie am Zaun, scheinbar ins Gespräch mit ihrer Freundin vertieft, doch ich sehe, dass sie mich von der Seite taxiert.

"-und gestern hab ich sie schon wieder getroffen!" Ina starrt mich erwartungsvoll an, und ich zwinge mich, sie anzusehen.

"Sorry, wen hast du getroffen?", frage ich sie, immer noch in Gedanken.

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt