20 - Überraschung

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Ellie

"Noah!" Ich kann meine Überraschung nicht verbergen. Da steht sie im Türrahmen, in T-Shirt und Jeans, genauso, wie ich mich vor wenigen Stunden noch von ihr verabschiedet habe.

"Ellie", sagt sie und sieht kein bisschen überrascht aus.

"Noah?", sagt jetzt David. Er sieht mindestens genauso überrumpelt aus wie ich mich fühle. "Ich hab sie draußen im Garten gefunden", scherzt Dad, der hinter ihr ins Esszimmer kommt. Ach ja? Ich schaue belustigt in Noahs Richtung und ziehe die Augenbrauen hoch, aber ihr scheint nicht zum Scherzen zu Mute zu sein. Fast könnte man auf die Idee kommen, dass sie mich ignoriert.

"Ach, David, mir geht's schon so viel besser!", sagt sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen und fällt meinem Bruder um den Hals. Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen, aber als Noah sich neben ihn an den Tisch setzt, hat er seine Miene schon wieder unter Kontrolle.

"Ich bin froh, dass es dir gut geht", sage ich und zum ersten Mal an diesem Abend sieht sie mich richtig an. Sie lächelt zwar, aber ihre Augen bleiben eisig. "Und ich bin so froh, dass es dir und deiner Freundin gut geht", entgegnet sie frostig. Unter all ihrer Kälte kann ich bemerken, dass sie ernsthaft verletzt ist. Oh Shit. Ich ziehe mein Handy aus meiner Tasche und beginne zu tippen, aber Ma bemerkt es und wirft mir einen bösen Blick zu.

"Ich denke, wir können einen Abend ohne Ablenkung ganz gut gebrauchen", sagt sie in die Runde und ich lasse das Handy wieder in meine Hosentasche gleiten. Scheiße. Jetzt habe ich nicht mal die Möglichkeit, Noah alles zu erklären.

"Exzellente Idee, Nora", sagt Noah und rückt ein Stück näher zu David, sodass sich ihre Schultern fast berühren. David versucht so gut es geht, es zu ignorieren. "Fangen wir bald an, zu essen?", fragt er mit zu einem steifen Lächeln versteinertem Blick.

"Du kannst mir gerne helfen, David", entgegnet meine Mutter angesäuert. Neben mir kichert Ina. Das hier läuft echt ganz anders, als ich es geplant hatte. Schwerfällig steht David auf und folgt meiner Mutter in die Küche. Es gibt Fisch mit gegrilltem Gemüse, und nachdem Ma und David das Essen serviert haben, sitzen wir einige Minuten nur schweigend da und essen.

"Und, Ina, Noah, wisst ihr schon, was ihr nach eurem Abschluss machen wollt?", fragt mein Vater, um die Stimmung aufzulockern. Er gibt sich Mühe, interessiert zu klingen. "Euer Abschlussjahr! Das muss furchtbar aufregend sein!", sagt er.

"Mediendesign", antwortet Ina wie aus der Pistole geschossen und legt ihre Hand auf meine, "Ich habe für ein paar Tagen meine Mappe abgegeben." Ich schaue sie an und sie grinst. Lass mich mal machen, sagt ihr Blick.

"Und du, Noah?", fragt Ma. Alle Augen ruhen auf Noah und ich kann ihre Anspannung über den Tisch hinweg spüren. "Ist ja noch fast ein Jahr", versuche ich, abzulenken, "Ich glaube, es ist nicht nötig, dass sie jetzt schon weiß, was sie machen will."

"Manche Leute wissen es selbst dann nicht, wenn sie schon über ein Jahr lang studieren", zischt David von der anderen Seite. Der hat gesessen.

"Ich weiß, was ich will." Zum ersten Mal meldet sich Noah zu Wort. Sie meidet meinen Blick noch immer. "Ich werde Medizin studieren. Ich hab mir ein paar Stipendien rausgesucht, aber selbst wenn ich die nicht bekomme, habe ich schon genug für die ersten Semester zusammengespart."

"Oh, wow!" Ma ist sichtlich beeindruckt. "Robert, dann haben wir ja bald noch eine Medizinerin in der Familie!" Ich sehe, wie Noah errötet. In der Familie. Ich weiß gar nicht, wer von beiden unangenehmer berührt aussieht, Noah oder David. Aber Noah hat sich schnell wieder gefangen. "Das ist eine wirklich schöne Vorstellung", sagt sie und lächelt unbekümmert.

"Du könntest ein Teil deines praktischen Jahres in meiner Praxis verbringen", sagt Dad jetzt mit ernsthaftem Interesse, "Vorausgesetzt, das willst du."

"Oh, ich bin eigentlich interessiert an Neurologie", stutzt Noah. "Aber, ähm, danke für das Angebot. Ich bin sicher, ich kann noch viel von Ihnen lernen."

"Lernen?", neben mir lacht Ina, "Anatomische Kenntnisse solltest ja schon genügend haben, davon dass du Ellie und mir hinterherspioniert hast." Es soll ein Scherz sein, aber sobald Ina die Worte ausgesprochen hat, weicht jegliche Farbe aus Noahs Gesicht. Es ist still geworden am Esstisch.

"Ich glaube, ich gehe dann mal lieber." Noah steht vom Tisch auf und faltet ihre Serviette auf ihren Teller. Sie räuspert sich. "Es ist auch schon spät. Danke... für die Einladung und das Essen."

Ich schaue auf die Reste meines Essens. Scheiße, das ging einen Schritt zu weit. Neben mir muss sich Ina schon wieder bemühen, nicht zu kichern und auch David sieht aus, als müsste er ein Lachen zurückhalten. Meine Eltern sagen gar nichts, sondern lächeln nur höflich, als wären die letzten zwei Minuten nie passiert.

Endlich schaffe ich es, aufzustehen. Ich erwische sie im Hausflur und meine Stimme ist ganz wacklig, als ich ihr zurufe: "Noah, warte."

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt