12 - Experiment

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Ellie

Als ich einen Schritt auf Noah zugehe, schreckt sie zurück, als hätte sie ein Stromschlag getroffen.

"Alles okay?", frage ich sie. Für einen Moment schaut sie ganz verwirrt, dann lächelt sie unsicher. Hat sie etwa gedacht, ich würde sie- ? Was für ein dämlicher Gedanke. "Ja, mir geht's gut", antwortet sie fröhlich. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. "Also, was steht an?", fragt sie.

"Okay, also es gibt da dieses Spiel...", fange ich an. "Nicht Flaschendrehen", füge ich schnell hinzu und sie lacht aufgeregt: "Schade!"

"Ja, ich weiß", entgegne ich, "Aber in den Genuss meiner Küsse kommt man nicht so oft im Leben, sorry, Babe." Sie zuckt bei dem Wort Babe kaum merklich zusammen. "Also, Spiel hast du gesagt? Experiment?" Sie mustert mich eindringlich.

"Naja, eher eine sorgfältige expertengeleitete Schulung", blinzele ich sie an, "Aber dafür müssen wir erst mal raus." Eigentlich ist es unnötig, dass wir hierher gekommen sind, in mein kleines schäbiges Wohnheimszimmer, aber aus irgendeinem Grund habe ich ihr zeigen wollen, wo ich wirklich wohne. Dass ich anders bin als David, dass ich auf andere Sachen Wert lege als er.

Noah nickt und folgt mir nach draußen. Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her, weiter in die Innenstadt, wo die Straßen belebter sind und die Häuser höher in den Himmel ragen. "Der Name des Spiels heißt Spot the Lesbian", sage ich, als wir in der Fußgängerzone angekommen sind. Sie lacht und verdreht die Augen. "Du verarschst mich, oder?"

"Nein, das ist mein purer Ernst." – "Okay, und das heißt?" – "Naja", sage ich und warte ein paar Sekunden ab, um Spannung zu erzeugen, "das Ziel des Spiels ist es, möglichst viele Lesben zu entdecken."

"Okay, ich gewinne." Sie lacht und zeigt auf mich. "Ich hab die erste Lesbe schon gefunden."

Ich beiße mir auf die Lippe. "Eins zu null, das lass ich gelten. Aber guck, da drüben, das ist mein erster Punkt."

"Wo?", sie sieht sich fragend um. "Karorock", flüstere ich ihr zu und sie schüttelt den Kopf, "Niemals. Ich würde diesen Rock anziehen."

"Ich weiß nicht, ob das so unbedingt für deine Heterosexualität spricht", necke ich sie und Noah lacht verlegen. "Okay", meint sie dann, "Angenommen, Karorock ist eine Lesbe, wieso qualifiziert sie ausgerechnet der Rock?"

Obwohl wir am Rumalbern sind, wirkt sie ehrlich interessiert. Ich überlege einen Moment, bevor ich ihr antworte. "Es ist nicht nur der Rock", antworte ich dann, "Es ist einfach...der bunte Rock, der dicke Eyeliner, die Docs..."

"Ist das nicht irgendwie diskriminierend, Leute so zu kategorisieren?", fragt sie.

"Klar, irgendwie", antworte ich ihr, "Letztendlich sind es alles Klischees und mein mehr oder weniger gut ausgeprägter Gaydar. Aber als queere Frau lernt man irgendwann, andere queere Frauen an den kleinsten Merkmalen zu identifizieren." Ich nicke in Richtung einer schmalen, hochgewachsenen Frau mit einem Pixiecut, die an uns vorbeiläuft, "Sie zum Beispiel, schau dir ihr Armband an. Kleine Regenbogenperlen. Dazu noch das ultimative Klischee, kurze Haare."

"Mh-mhh." Noah nickt, als hätte ich gerade etwas sehr Weises gesagt. "Okay, was noch?"


Noah

Wir spielen schon fast eine halbe Stunde und ich habe langsam das Gefühl, ich werde besser. Irgendwie fühle ich mich immer noch komisch dabei, diese fremden Frauen in "hetero" und "nicht-hetero" zu kategorisieren, aber Ellie hat mich davon überzeugt, dass das Spiel keinem schadet, am wenigsten diesen fremden Leuten, die wir eh nie wieder sehen werden. "Du denkst dir einfach die Geschichte dieser Menschen aus", sagt sie und nickt dann nach links, "Die Frau mit den pinken Haaren, dreizehn zu drei. Du denkst dir die Geschichte dieser Menschen aus, und diese Geschichte ist zufällig gay." Das bringt mich zum Lachen.

"Was ist mit der da?", fragt sie mich jetzt und ich mustere die junge Frau, die gerade an uns vorbeiläuft. "Ähm, keine Ahnung, hetero?", sage ich und sie schüttelt den Kopf. "Guck dir die Plattform-Heels an", erklärt sie, als sei sie Landesvorsitzende des Erkenne-eine-Lesbe-Verbands, "Ich habe da so eine Theorie, und zwar, dass ausgeprägte Femininität von Natur aus queer ist. Also nicht nur lange Haare, sondern auch gefärbte Haare, buntes Make-Up, eigentlich alles, was Typen als tussig und übertrieben abstempeln würden..."

"Ich bin ausgeprägt feminin", entgegne ich und sie mustert mich. "Naja", bewertet sie, "So semi, ne?" Ich will sie fragen, was sie damit meint, aber im nächsten Moment sehe ich eine Frau, die gleich zwei Flanellhemden übereinander trägt, und schreie Ellie laut "Lesbe!" zu.

"Shh!", entgegnet Ellie leicht peinlich berührt, als sich die Frau zu uns umdreht. "Du bist ja sehr subtil."

"Vierzehn zu vier", entgegne ich ihr triumphierend. – "Der Punkt war quasi geschenkt." – "So etwas sagt nur jemand, der Angst hat, zu verlieren", necke ich sie und tatsächlich sieht sie kurz ein bisschen eingeschüchtert aus.

Während wir weiter Spot the Lesbian spielen, fällt mir etwas ein. "Und, ist da jemand für dich dabei?"

"Was- meinst du, eine Frau?"

"Soweit ich weiß, bist du eine Lesbe, richtig? Und wenn Ina und du jetzt eh Schluss gemacht habt...-" Ich weiß, dass es unsensibel ist, sie so unverblümt zu fragen, aber die Frage brennt mir schon seit einer ganzen Weile auf der Zunge. "Also, war da jemand dabei, der deinem Typ entspricht?"

"Nein." Sie mustert weiter die Passanten.

"Du kannst nicht einfach nein sagen", albere ich, "Ich meine, ich verstehe es, wenn du noch an Ina hängst, aber-"

"Das mit mir und Ina ist vorbei!", sagt Ellie, heftiger als ich es erwartet habe. "Und zwar endgültig."

Dann tut sich der Himmel auf und entlädt sich auf einem Schlag; dicke, dunkle Tropfen sprenkeln den Asphalt und im nächsten Moment rennen wir durch den Regen auf der Suche nach einem Unterstand. Es schüttet und ich muss mir die Hand vors Gesicht halten, um überhaupt etwas erkennen zu können.

"Hier lang." Ellie greift nach meiner Hand und zieht mich nach rechts, ich laufe ihr nach. Sie hat mich unter das Vordach einer Bankfiliale gezogen; wir stehen auf den Stufen davor und ich presse mich so gut es geht gegen die Scheibe, um nicht komplett durchweicht zu werden. Dann schaue ich zu Ellie: Sie hat einen ganz seltsamen Ausdruck in den Augen, und im nächsten Moment ist sie wieder in den Regen gesprungen und wirbelt sich darin herum, schallend lachend.

"Hey, was machst du da?", rufe ich ihr zu und ziehe sie wieder zu mir unter die Fassade. "Du bist ja total verrückt geworden." Sie lacht immer noch und zwar so herzlich, wie ich sie noch nie habe lachen sehen. Vollkommen unbeschwert; sie hat den Kopf weit in den Nacken geworfen. "Total verrückt", wiederhole ich und schaue sie an.

Das Sonnenlicht lässt die Regentropfen, die in ihren Wimpern hängen, glitzern. Das Kribbeln ist zurück, diesmal intensiver als je zuvor. Es überzieht jeden Zentimeter meiner Haut, als stände ich unter Strom und mit einem Mal werde ich mir Ellie heute zum ersten Mal richtig bewusst. Sie ist nur eine Armlänge von mir entfernt; ihr graues Tanktop klebt ihr nass am Körper und ihre Arme glänzen vom Regen.

Bevor ich weiß, was ich tue, halte ich ihr Gesicht in meinen Händen und ziehe sie näher an mich heran. Sie riecht so erdig, so gut, nach Wald und Regen und Sonnenschein zugleich. Ihr Duft vernebelt mir die Sinne; ich würde am liebsten nie mehr etwas anderes riechen.

"Noah." Ellies Stimme ist sanft, aber zögernd.

"Ich muss nur...", murmele ich ihr zu, aber ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was ich sagen will. Ellie, Ellie, Ellie. Ich weiß nur, dass ich sie jetzt küssen muss, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, dass alles in meinem Körper danach schreit, sie jetzt in diesem Moment ganz nah bei mir zu haben. Sie sieht so schön aus. Ich verfolge mit meinem Blick den sanften Schwung ihrer Oberlippe und drücke meine Lippen dann sanft auf die ihren.

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt