11 - Roadtrip

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Noah

Abgesehen davon, dass es der letzte Schultag vor dem Wochenende ist, mag ich an Freitagen am liebsten, dass ich nach der Schule keine sonstigen Verpflichtungen mehr habe. Bis auf Dienstag und Freitag gehe ich immer nach der Schule ins Vogelnest und auch diesmal schaue ich kurz dort vorbei, wenn auch nur, um Sofia und Ollie auszuchecken. Gestern haben sie sich in meiner Anwesenheit so verhalten, als sei nie etwas zwischen ihnen vorgefallen, doch heute sehe ich, wie ihre zusammengesteckten Köpfe auseinanderschrecken, als ich durch die Tür das Café betrete.

"Sorry", grinse ich, "Ich wollte euch nicht stören."

"Hast du nicht", entgegnet Sofia, aber sie wird rot und auch Ollies Wangen glühen. Mit dieser Röte im Gesicht sieht er wie ein kleiner Junge aus und gar nicht mehr so alt wie sonst.

"Was macht deine neue beste Freundin?", fragt Ollie jetzt und wackelt mit den Augenbrauen. Klassisches Ablenkungsmanöver. Ich werfe Sofia einen vorwurfsvollen Seitenblick zu. "Danke, Sof, ich wusste nicht, dass alles, was ich dir erzähle, auch deinen neuen boyfriend erreicht."

Ihr Gesicht wird noch röter. "Wir sind nicht-", fängt sie an und zeitgleich verteidigt sich Ollie: "Sie erzählt mir nicht alles!"

"Du bist also ihr boyfriend?", necke ich ihn. Der Arme sieht aus, als würde er gerne auf der Stelle im Boden versinken. "Ich sag dazu jetzt nichts mehr", sagt er nur und ich lache. "Sorry, Ollie. Ellie geht's gut", füge ich dann hinzu. Mein Handy vibriert. Tut mir Leid, schreibt Sofia. Sie hat so schnell getippt, dass ich es gar nicht gemerkt habe. Apropos Ellie, tippe ich zurück, Ich könnte dir viel Neues erzählen, aber...

"Oh mann, ihr könnt euch ruhig unterhalten, ja?" Ollie verdreht die Augen, als er über meine Schulter hinweg den Chat mit Sofia sieht. "Ich kann auch einfach gehen, wenn's so geheim ist."

"Schon okay." Ich werfe ihm eine Kusshand zu. "Ich war eh auf dem Sprung. Wenn Sofia wissen will, was es Neues gibt, kann sie ja vorbei kommen." Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "Alleine", füge ich warnend hinzu. Ich trinke meinen Kaffee leer und verabschiede mich von den beiden. Durch die Scheibe des Cafés sehe ich, wie er ihr eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat, und sie verlegen lacht. Irgendwie sind sie, auf eine skurrile Art, ganz süß zusammen.

omw, schreibe ich Ellie dann. Sie hat mir gestern Nacht oder, streng genommen heute Morgen, kurz nach eins noch geschrieben und mich nach Heute gefragt. Und da ich außer mit Sofia und David sonst nicht viel mit anderen Leuten zu tun habe, bin ich über jeden sozialen Kontakt froh. Wir treffen uns vor dem Haus der Sichelmans und ich sehe Ellie schon von weitem, wie sie sich mit verschränkten Armen an ihren grauen VW Golf anlehnt, der in der Einfahrt steht. Heute trägt sie ein ärmelloses graues Tanktop, das ihre muskulösen Arme zur Geltung bringt und wirkt besonders einschüchternd.

Als sie mich sieht, wird ihr Blick weicher. "Hey", begrüßt sie mich und wir umarmen uns knapp. "Bist du bereit für einen kleinen Roadtrip?" In ihrer Stimme schwingt hörbare Begeisterung mit. Ich nicke, obwohl ich keine Ahnung habe, was sie vorhat, und steige auf der Beifahrerseite ein.

"Oh, shit, sorry", sagt sie und klettert von der Fahrerseite über den Sitz, um die Stapel von Magazinen, die noch auf dem Boden der Beifahrerseite liegen, wegzuräumen. "Ina beschwert sich immer, dass mein Auto aussieht, wie 'ne Müllhalde." Ich sehe mich im Auto um und muss Ina in Gedanken Recht geben. Überall liegen Kassenbons und verblichene Park-Belege herum, die Fächer der Seitentüren sind vollgestopft mit Stapeln von Servietten und bestimmt vier Tuben verschiedener Handcremes, und am Rückspiegel hängen ungefähr 10 oder 12 verschiedene Wunderbäume übereinandergestapelt, die von der Sonne schon ganz blass geworden sind.

"Ach was, ist doch gar nicht so schlimm", lüge ich. "Wo fahren wir hin?", frage ich sie dann.

"Erstmal zu mir", antwortet sie knapp. Zu ihr? Ich war noch nie in Ellies Wohnung, aber von David weiß ich, dass sie in der Nähe des Unicampus wohnt, mit dem Auto etwa eine halbe Stunde von hier entfernt. "Apropos", fällt mir plötzlich ein, "Müsstest du nicht eigentlich in der Uni sein?"

"Nicht du auch noch." Ellie seufzt und ich kann spüren, dass sie genervt von der Frage ist. "Ich nehme mir eine Auszeit", elaboriert sie dann, "Das darf ich doch noch, oder nicht?"

"Ähm, ja, klar", stottere ich, überrascht über ihre plötzliche Aggressivität. "Tut mir Leid, ich wollte wirklich nicht-"

"Nein, schon in Ordnung. Es ist nur, dass...", für einen Moment starrt sie nur geradeaus auf die Straße, "Irgendwie war das genau das Streitthema, wegen dem Ina und ich uns getrennt haben."

Ina und Ellie haben sich getrennt? Ich versuche mich daran zu erinnern, wie Ina heute Morgen in der Schule ausgesehen hat, aber ich kann mich nicht entsinnen, sie überhaupt gesehen zu haben. Vielleicht ja gerade deshalb. "Oh", kommentiere ich in Ermangelung einer besseren Alternative und versuche, ihren Blick zu deuten, "Tut mir Leid?"

"Nein, muss es nicht." Sie seufzt erneut. "Ina hat gesagt, es wäre schon lange zwischen uns vorbei gewesen und vermutlich hat sie Recht. Ina will dieses perfekte Studentenleben führen und ich... Ich weiß, einfach nicht, was ich will." Bei ihren letzten Worten schaut sie kurz zu mir rüber und ich schaue verlegen zur Seite. "So, wir sind da."

Sie hält an einer Seitenstraße und steigt aus, um mir von der anderen Seite die Tür zu öffnen. Von hier aus kann man den Campus mit seinen kastigen Ziegelsteingebäuden und Fassaden aus Stahl und buntem Glas sehen. Vor wenigen Wochen habe ich David besucht, um mir seine Wohnung anzuschauen. Sie ist größer als mein Zuhause. Ich kann mir nur vorstellen, dass Ellies Wohnung ähnliche Dimensionen hat.

"Kommst du?" Ellie ist schon vorgegangen und ich folge ihr. "Hier entlang", sagt sie und öffnet die Haustür zu einem riesigen, quadratischen Kasten mit bestimmt fünfzehn oder zwanzig Stockwerken. Schweigend folge ich ihr die Treppen hinauf, und als wir im siebten Stock ankommen, bin ich außer Atem und durchgeschwitzt.

"Scheiße, N, du solltest echt mehr Sport machen", sagt sie, als ich mich am Geländer abstütze. Ich schaffe es kaum, zu nicken, so kurzatmig bin ich. "Danke für den Hinweis", keuche ich und folge ihr nach rechts in einen Gang, von dem auf beiden Seiten bestimmt zehn Türen abgehen. N. Ist das jetzt mein neuer Spitzname? Wieder kribbelt mein ganzer Körper. "Hier sind wir", sagt Ellie, fast am Ende des Ganges angekommen, schließt die Tür vor ihr auf und öffnet sie mit einer einladenden Geste, damit ich eintreten kann.

"Oh, wow." Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber das ist es nicht. Ihre Wohnung – wenn man das so nennen kann – ist vielleicht fünfzehn Quadratmeter groß und besteht hauptsächlich aus einem großen Schrankbett, auf dem Bücher wild verteilt und halb aufgeschlagen liegen, sowie einer kleinen Küchenzeile mit zwei Herdplatten. Zur Rechten geht ein kleines Zimmer ab; durch die halboffene Tür sehe ich ein Waschbecken mit Spiegel. Wie kann es sein, dass David diese Schicki-Micki-Bude hat, und Ellie...das hier?

"Du warst bei David, oder?", fragt sie mich, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich nicke, meinen Blick immer noch im Raum herumschweifend. Sie lacht, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt. "Dann weißt du ja jetzt, wer das Lieblingskind von uns beiden ist."

"Das ist so unfair!", platzt es aus mir heraus und mein Blick bleibt an einem Foto von ihr und Ina hängen, das über ihrem Bett mit Tesa festgeklebt ist. Sie zuckt mit den Schultern: "Ist schon okay für mich. Ich bin eh nicht oft hier..."

Ihre Stimme verliert sich und im nächsten Moment ist sie aufgestanden und steckt das Foto ein. "Das hab ich ganz vergessen", sagt sie mit eindringlichem Blick, der meinem gefolgt ist, und lacht. "Vielleicht hätte ich eins von unseren Postern aufheben sollen, dann wär's jetzt nicht so kahl hier."

Ich lache mit. Unser Poster. Das zusammengerollt ganz hinten in meinem Kleiderschrank liegt, genau in diesem Moment. "Ja, vielleicht", sage ich.

"Willst du das vielleicht ausziehen?", fragt mich Ellie dann und deutet auf meinen Rucksack. Ich lasse ihn auf den Boden sinken, direkt neben der Tür. "Was hast du vor?", frage ich sie.

Sie tritt einen Schritt näher auf mich zu. "Nennen wir es... Experiment", sagt sie und lächelt auf eine Weise, als müsste ich Angst haben.

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt