32 - Traditionen

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3 Wochen später. 

Noah

Meine Mutter hat kein Grab in dieser Stadt; wir haben sie zurückgelassen in einer anderen Stadt, einem anderen Leben. Marielle Waller, geliebte Ehefrau, Mutter und Schwester, steht irgendwo auf einem Grabstein in ordentlichen, eckigen Buchstaben. Geboren 14. Februar 1974. Gestorben 23. Dezember 2019. Aber anstatt an ihrem Grab stehe ich heute auf der Wiese, auf der Ellie und ich uns in einer Nacht, die schon eine Ewigkeit her zu sein scheint, geküsst haben, weil ich weiß, dass es ihr hier gefallen würde. Und weil mir der Gedanke gefällt, dass sie hier bei mir ist und über die ganze Stadt blicken kann. Ich halte einen Strauß mit weißen Tulpen in der Hand – nicht ihre Lieblingsblumen, aber zu dieser Jahreszeit habe ich nirgendwo Sonnenblumen gefunden.

"Hey", sage ich ins Nichts herein, wohl wissend, dass sie mir nicht antworten wird. Trotzdem bilde ich mir ein, dass sie mich hören kann. "Hey, Mom. Heute sind wir schon drei Jahre ohne dich." Es schmerzt, es auszusprechen. Wie oft kommt es mir so vor, als sei es schon immer so? Wie oft mache ich mir danach Vorwürfe, dass ich – wenn auch nur für einen kurzen Moment – vergessen habe, dass sie in meinem Leben fehlt? Zu oft. Ich räuspere mich und umklammere den Strauß noch fester, als hielte ich ihre Hand. "Es tut mir Leid, dass ich in letzter Zeit so selten an dich gedacht habe. Ich wünschte, du wärst hier und könntest das alles miterleben. Ellie – du kennst Ellie nicht, sie ist Davids Schwester, aber David kennst du ja auch nicht..."

Ich lasse die Worte fallen. Es ist albern, das weiß ich selber, aber irgendwie tut es gut, ihr alles zu erzählen, auch wenn ich es nur jemandem erzähle, der nicht da ist. "Ellie ist jetzt meine Freundin", sage ich in die kalte Dezemberluft hinein. Mein Atem bildet ein kleines, weißes Wölkchen. "Du würdest sie mögen. Dad mag sie. Wenn du jetzt hier wärst, würden wir zusammen Weihnachten feiern und..." Wenn sie jetzt hier wäre, hätte ich Ellie nie kennen gelernt. Der Gedanke blitzt in meinem Kopf auf und ich fühle mich, als hätte man mir einen Schlag in die Magengrube versetzt. Es stimmt. Wenn Mom nicht gestorben wäre, wären wir nicht umgezogen. Dann hätte ich weder Sof, noch David, noch Ellie kennengelernt. Alles wäre jetzt anders.

"Ich vermisse dich", sage ich. Ich will nicht daran denken, welches Leben ich jetzt führen würde, wenn meine Mutter noch leben würde. Ich will mich nicht – selbst, wenn es nur in Gedanken ist – zwischen ihr und Ellie entscheiden müssen. Das kann ich nicht. "Neulich wollte ich Marie anrufen wegen des Projekts, das wir für Bio machen müssen, und da wurde mir deine Telefonnummer vorgeschlagen." Ich lache leise. Es war ein absurder Moment. Aber Marielle, der Name meiner Mutter – ich speichere alle Personen mit Vor- und Nachnamen ein, selbst meine Eltern – war einfach zu nah an Marie gewesen. Für eine Weile habe ich ihren Kontakt in meinem Handy, direkt über ihrer alten Nummer, die wahrscheinlich längst nicht mehr existiert, nur angeschaut. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich sogar darüber nachgedacht, ihre Nummer zu wählen, just because, nur um zu sehen, wer vielleicht abhebt. Aber dann war der Moment vorbei und es kam mir furchtbar albern vor, überhaupt darüber nachgedacht zu haben.

Ich stecke den Blumenstrauß in die Erde. Zumindest versuche ich es, aber der Boden ist so festgefroren, dass die Stiele der Tulpen nicht darin halten wollen, also lege ich den Strauß einfach auf den Boden, direkt dort, wo man die beste Aussicht hat. "Ich würde alles geben, um noch einmal mit dir reden zu können", sage ich, und dann, aus einer Laune heraus: "Gib mir ein Zeichen, Mom. Wenn du kannst, bitte, zeig mir, dass du da bist."

Ich schaue nach oben, in den wolkenlosen, weißen Winterhimmel und warte. Aber der Moment verstreicht und der Himmel öffnet sich nicht über mir, nicht mal ein kleines Windchen durchstreift mein Haar. Stattdessen bleibt es still, unberührt, klirrend kalt. "Vielleicht nächstes Jahr, Mom", sage ich und für eine Sekunde habe ich das Gefühl, ich könnte das Lächeln meiner Mutter in meinem Rücken spüren.

Ellie

Es ist der Tag vor Heiligabend und wie jedes Jahr treffen wir uns bei einem von uns, um Wichtelgeschenke auszutauschen. Diesmal hat es Bär getroffen, also sitzen wir alle auf seinem Bett verteilt, Iri zwischen Nellys Beinen, ich zwischen ihn und Mo gequetscht. Bärs Mitbewohner Julian hat Glühwein für alle gekocht, in einem riesigen Topf, der eigentlich wohl für sowas wie Chili vorgesehen ist, dementsprechend sind wir alle schon etwas angeheitert.

Aus Julians Zimmer hört man Weihnachtsmusik, die so laut ist, dass sie selbst durch zwei geschlossene Türen in Bärs Zimmer dringt. Er ist ein komischer Typ, die meiste Zeit freundlich, aber sehr socially awkward. Bär sagt, eigentlich wäre er ganz cool, zumindest, wenn man mit ihm alleine ist, aber manchmal frage ich mich, ob er Angst vor uns hat. Jedenfalls hat er sich nach seiner Glühwein-Aktion direkt wieder in sein Zimmer verzogen.

Ich höre Britney Spears' Stimme durch die Wand und runzle die Stirn: "Ich dachte, es gibt Weihnachtsmusik?"

"Excuse me?" Bär blinzelt betont stark, "My only wish, der vielleicht iconic-ste Weihnachtssong der Zweitausender? Du bist echt ein unkultiviertes Schwein, El, und ich schäme mich für dich!"

Ich lache laut, als er sich ein Stückchen zu weit nach vorne lehnt und beinahe seinen Glühwein verschüttet. "Sorry", entgegne ich und werfe entwaffnend die Hand nach oben, die nicht meine Glühweintasse hält, "Ich bin wirklich wahnsinnig unkultiviert." Ich nippe an meiner Tasse und der süß-saure Geschmack des Weins füllt meinen Mund. Mir ist so warm, dass ich mich am liebsten ausziehen würde. "Und ein Schwein", füge ich hinzu und trinke noch einen Schluck.

Nelly und Irene haben nur noch Augen für sich. "Apropos Schwein", sagt Irene. Ihre Stimme macht einen kleinen Hickser und im nächsten Moment fängt sie an, unkontrolliert zu kichern, "Ich habe auch ziemlich schweinische Sachen heute Abend mit dir vor, Nelly-Belly!"

"Ew", kommentiert Bär und zieht die Augenbrauen hoch, muss dann aber auch grinsen.

"Buuuhhh!", schreit Nelly, "Du hast schon so viele wirklich eklige Typen angeschleppt, da darfst du – da darfst du – da kannst du nicht..." Was genau Bär nicht kann, erfahren wir jedoch nicht, denn im nächsten Moment zieht Iri sie an sich heran und bedeckt ihr ganzes Gesicht mit wilden Küssen. Ihr lila Lippenstift hinterlässt verschwommene Lippenabdrücke überall dort, wo Iri sie abknutscht. Nelly fängt an, wie wild zu lachen und auch ich fühle mich furchtbar unbeschwert und in einer ziemlich albernen Stimmung.

Ich lasse meinen Körper nach hinten auf das Bett fallen und höre ihrem Lachen zu. Ich wünschte, Noah wäre jetzt hier. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche. "Ich liebe dich", tippe ich, erstaunt über meine noch vorhandenen Fähigkeiten. Ein paar Sekunden später vibriert mein Handy, aber es ist nicht Noah. "Ich vermute, das ging nicht an mich, oder?", schreibt David. Upsi. Dann ploppt eine zweite Nachricht direkt darunter auf: "Ich liebe dich auch, du verrückte Nudel". Ich muss grinsen. Okay, das war wohl genug Glühwein für heute. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt