35 - Wünsche

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Ellie

Die Weihnachtstage vergehen schnell und ich habe das Gefühl, dass ich noch nie so viel Zeit auf einmal mit Noah verbracht habe. Es ist das erste Mal, dass ich eine Freundin an Heiligabend mit zu meinen Eltern mitgenommen habe – Ina und ich haben uns in unserer On-Off-Beziehung irgendwie immer zeitlich vor den großen Feiertagen getrennt –, und der Tag ist erstaunlich schön und entspannt verlaufen. Dadurch, dass das Vogelnest bis zum neuen Jahr geschlossen ist, hängen wir quasi 24/7 aufeinander und zu meiner eigenen Verblüffung sind wir einander noch kein bisschen satt.

Nachdem sie mir vor einer Woche von ihrer Mutter erzählt hat, sehe ich sie mit anderen Augen. Sie ist immer noch dieselbe, tolle Noah, aber plötzlich habe ich das Gefühl, jedes kleine Stück ihrer Persönlichkeit passt perfekt zusammen. Ich verstehe sie, mehr als je zuvor, und obwohl das eigentlich etwas Positives ist, macht es mir Angst.

"Weißt du, N", sage ich und sie dreht ihren Kopf zu mir um und lächelt. Wir liegen nebeneinander auf ihrem Bett, sie liest ein Buch – House of God – und ich bin nur mit meinen Gedanken beschäftigt. "Ich weiß sogar ziemlich viel", entgegnet sie und bringt mich damit zum Lachen, "Aber worauf, spezifisch, willst du jetzt hinaus?"

"Ich bewundere dich", sage ich und bringe sie damit nur noch mehr zum Lachen. "Was?", frage ich, "Darf ich das nicht?"

"Du bist so albern, El." Sie verdreht die Augen. Seit ein paar Tagen hat sie auch angefangen, mich so zu nennen und ich habe noch nicht entschieden, ob mir das gefällt. "Aber okay, ich bin ganz Ohr." Sie legt ihr Buch weg und setzt sich hin.

"Mach mir keinen Druck", scherze ich, "Hohen Erwartungen kann ich nämlich aus Prinzip nicht gerecht werden."

"Kein Druck, versprochen." – "Okay." Ich setze mich ebenfalls auf. "Weißt du, du hast diesen inneren... Antrieb in dir", versuche ich jetzt, zu erklären, "Das ist wahnsinnig sexy, aber auch echt einschüchternd. Und bewundernswert, darauf wollte ich hinaus."

"Antrieb?" Sie runzelt die Stirn.

"Als wüsstest du genau, was du tun musst", führe ich aus. "Du kennst den Weg zu der Person, die du werden willst. Du hast einen Plan und du... folgst ihm einfach." Sie versteht es nicht. Das weiß ich schon, bevor sie antwortet.

"Ach, Ellie." Sie lacht. "Das ist lieb, aber das ist doch nichts Besonderes. Das macht doch jeder, irgendwie."

"Ich nicht." Es ist eines der ersten Male, dass ich es ausspreche. Nicht, dass es mir nicht vorher schon schmerzhaft bewusst gewesen wäre, aber mein eigenes Leben – orientierungslos, irgendwie halbherzig – im Vergleich zu ihrem perfekten Plan zu sehen, hat es mir nochmal besonders deutlich vor Augen geführt. Ich beneide sie. Es ist nicht nur Bewunderung, die ich für diesen inneren Antrieb hege, es ist blanker Neid. Und es tut mir weh, den Menschen zu beneiden, den ich am meisten liebe.

"Ach, Ellie", wiederholt sie jetzt. "Du bist noch jung. Du musst nur rausfinden, was du machen möchtest. Oder was du gut kannst. Du hast noch so viel Zeit."

Es ist verrückt, wie unterschiedlich Ina und sie sind. Ich muss daran denken, wie erbost Ina darüber gewesen war, als ich ihr erzählt hatte, dass wir nicht zusammenziehen werden. Fuchsteufelswild trifft es schon eher. N auf der anderen Seite scheint für sich selber zwar einen genauen Plan zu haben, sich aber nicht allzu sehr von meinem eigenen (oder der Ermangelung von diesem) beeinflussen zu lassen. Bewundernswert. Das Wort schmeckt ein bisschen bitter in meinem Mund.

"Ja, wahrscheinlich hast du Recht", antworte ich ihr lasch. Denk nicht daran, ermahne ich mich in Gedanken. Es ist der letzte Tag des Jahres – ein Tag für gute Vorsätze, nicht für schlechte Laune. Vielleicht sollte das mein guter Vorsatz sein: Herauszufinden, was ich will. "Hey", sagt Noah plötzlich und wirft mir ein verschmitztes Lächeln zu. "Bis zum Feuerwerk haben wir noch ein paar Stunden."

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt