19 - Dinner

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Ellie

"Also um das nochmal zu wiederholen: Du erwartest von mir, dass ich als deine Freundin mit zur Dinnerparty deiner Eltern komme?" Ina sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

"Nicht als meine Freundin", kommentiere ich, "Ich meine, das können sie denken, aber du musst nicht lügen."

"Das macht es natürlich soo viel besser", sagt sie sarkastisch und zieht sich in ihrer Handykamera den Lippenstift nach. Ich liege neben ihr auf ihrem Bett und zähle die kleinen Leuchtsterne, die an ihrer Decke kleben.

"Außerdem ist es keine Party", füge ich hinzu, "Nur ein Dinner."

"Deiner Familie mit deiner Freundin – ähm, Verzeihung, das muss ich ja nicht sagen – und deines Bruders mit seiner Freundin." Sie presst ihre Lippen zusammen, um den Lippenstift zu verreiben. "Apropos, wie soll das eigentlich gehen? David bringt dann Noah mit und du musst dabei zusehen, wie die sich ablecken?"

"David bringt ganz bestimmt nicht Noah mit", antworte ich. 84 Sterne kleben an Inas Decke. 83, nachdem mir eben einer auf den Kopf gefallen ist. "Ich bezweifle, dass N da überhaupt was von erfährt, to be honest."

"Wie, du hast ihr nichts davon erzählt?" Ina schraubt die Kappe auf ihren Lippenstift und setzt sich auf. Ihre dunklen Lippen formen ein ungläubiges O. "Das ist ein Scherz, oder?"

Okay, ich weiß, das ist vielleicht nicht die beste Taktik. Vielleicht hätte ich Noah davon erzählen sollen, aber ich will unser Glück nicht provozieren, in dem ich nur knappe 72 Stunden nach unserem ersten richtigen Kuss meine Ex-Freundin zum Familiendinner mitbringe. Außerdem hat sie bestimmt auch keine Lust, mit David zu erscheinen und auf "heile Welt" zu tun, also ist es wahrscheinlich das beste, wenn sie gar nichts davon weiß. Ich meine, es ist nur ein Abend. Wie schlimm kann der wohl werden?

***

Ich habe es tatsächlich geschafft, den Mund zu halten, aber zugegebenermaßen haben Noah und ich gestern Abend nach ihrer Schicht auch andere Dinge vorgehabt, als zu reden. "Holst du mich morgen von der Schule ab?", hat sie mich gefragt, als wir uns verabschiedet haben. "Du weißt ja, Freitag hab ich frei. Naja, nach der Schule zumindest."

Natürlich hab ich sie abgeholt. Wir sind zurück zu unserer Wiese gefahren und haben ein Picknick gemacht und geredet, so lange, bis die Sonne untergegangen ist, was Anfang November zugegebenermaßen schon um kurz nach vier der Fall ist. Je mehr wir uns dem Abend angenähert haben, desto nervöser bin ich geworden. So nervös, dass es sogar Noah aufgefallen ist. "Alles okay?", hat sie mich gefragt und dabei ganz süß die Stirn gerunzelt. "Mir geht's irgendwie nicht so gut." Okay, ich weiß. Eine Notlüge. Nicht mein stolzester Moment. "Macht's dir was aus, wenn wir uns morgen wieder sehen?" – "Nein, natürlich nicht." Sie hatte nicht besonders begeistert gewirkt, "Nach meiner Schicht im Café?" – "Samstags?" Mir war nicht klar gewesen, wie oft Noah arbeiten geht.

Jetzt sitzen wir zu fünft am Tisch, meine Eltern, David, Ina und ich. Der Platz, an dem Noah sitzen sollte, ist frei. Einzig das Gedeck erinnert noch daran, dass eigentlich eine Person mehr am Tisch sitzen sollte. "Kommt Noah nicht?", hat meine Mutter gefragt. "Ihr geht's nicht so gut", hat David geantwortet, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Wow, wir sind wirklich eine Familie voller Lügner. "Schade." Ma hat sichtlich enttäuscht gewirkt. "Dann vielleicht beim nächsten Mal. Sie ist so ein nettes Mädchen."

"Sehr nett." Der Unterton, der in Davids Stimme mitgeschwungen ist, ist nur für mich hörbar. Wir sind kaum fünf Minuten hier und die Stimmung – zumindest zwischen David und mir – hat bereits den Nullpunkt erreicht.

"Also, Ina und Ellie, ihr seid natürlich auch ein süßes Paar", sagt Ma jetzt, als hätte sie die Stimmung kippen gehört. Ina legt mir einen Arm um die Schulter. "Danke, Nora", grinst sie und will mich auf die Wange küssen. Ich weiche ihr gerade noch aus, indem ich nach einem Stück Brot greife. Das wird ein laaaaanger Abend.

Noah

Ich weiß, jetzt gerade mache ich meinem Ruf als Stalker alle Ehre. Aber ich habe gute Gründe! Ich stehe nicht versteckt hinter einem Baum vor dem Haus der Sichelmans, weil ich Ellie gefolgt bin. Okay, ich bin Ellie gefolgt, aber ich bin ihr gefolgt, weil ich weiß, dass sie mir etwas verschweigt. Vielleicht ist es Ellie nicht bewusst, aber immer, wenn sie etwas sagt, was nicht ganz der Wahrheit entspricht, macht ihre Stimme diesen kleinen Kiekser. Zum Beispiel dann, wenn sie sagt, dass es ihr nicht gut geht, obwohl sie so schön aussieht wie immer und wenn sie zufälligerweise gleichzeitig nervös rumzappelt.

Da sind sie – Dr. Sichelman, seine Frau, David, Ellie und... Ina?Das kann nicht wahr sein. Ich trete noch einen Schritt auf das Fenster zu, um sie besser erkennen zu können. Von meinem Baum aus ist die Sicht eher suboptimal, also schleiche ich mich hinter den nächsten Busch. Zu meinem Glück hat er noch nicht alle seiner Blätter verloren, auch wenn er schon ziemlich erbärmlich aussieht.

Doch, das ist eindeutig Ina. Sie sitzt direkt neben Ellie und trägt ein glitzerndes, rotes Kleid. Ich habe Ina noch nie in einem Kleid gesehen. Geschweige denn in Glitzer. Es muss ein festlicher Anlass sein, sonst hätte sie sich nie so aufgebrezelt. Jetzt, wo ich so drüber nachdenke, sieht auch Ellie ungewöhnlich festlich aus. Ihre Haare sind so wild wie immer, aber sie hat sie nach oben gesteckt und trägt eine Bluse. Eine Bluse! Kein Hemd, sondern eine schicke, glänzende Bluse mit kleinen Knöpfchen an den Ärmeln, die bei jeder ihrer Bewegungen schimmern.

Scheiße, was soll das? Sie sitzen zusammen am Tisch und unterhalten sich, als wäre es das Normalste der Welt. Ina lacht, ein strahlendes, perlweißes Lachen; ein ungewöhnlich großes Lachen – so eins, das man nur benutzt, wenn man sich bei jemandem einschleimen will. Und dann berührt sie Ellies Schulter. Zärtlich, vertraut, als wäre das das Normalste der Welt. Und Ellie lässt es einfach zu.

Ich wusste es. Es braucht nur diese eine Berührung, nur dieses eine Lächeln von Ellie, das sie Ina zuwirft, und meine Welt liegt in Scherben. Ich habe sie nicht nach Ina gefragt, aber vielleicht hätte ich das tun sollen. Wieso habe ich sie nicht gefragt? Mir ist heiß und kalt zugleich. Mir ist so, so übel. Am liebsten möchte ich mich umdrehen und wegrennen, aber ich kann meinen Blick nicht vom Esstisch lösen. Am liebsten möchte ich vor diesen dämlichen Busch kotzen, hinter dem ich mich gerade verstecke. Dr. Sichelman steht vom Tisch auf und ich habe eine noch bessere Sicht auf Ellie und Ina. Gerade sagt Ina etwas und bringt Ellie damit zum Lachen. Es bricht mir das Herz.

"Noah!" Ich schrecke zusammen, als ich eine vertraute Stimme hinter mir Höre und wische mir eine einzelne wütende Träne von der Wange, von der ich gar nicht bemerkt habe, dass sie da ist. Nein, nein, nein. Das kann nicht wahr sein. Es ist Dr. Sichelman. Er muss mich irgendwie gesehen haben. Schnell bücke ich mich zu meinem Schuh, als würde ich meine Schnürsenkel binden. "Oh, hi", ich schaue in gespielter Überraschung zu ihm hoch. "Ich war nur grad...-"

"Es ist so schön, dass du es doch noch geschafft hast", sagt Ellies Vater und klopft mir auf die Schulter. "Geht es dir wieder besser?"

"Besser?" Wovon redet er überhaupt? Ich blicke in sein erwartungsvolles Gesicht. Er scheint überraschend begeistert darüber, mich in seinen Hecken erwischt zu haben. Ohne auf meine Antwort zu warten, redet er weiter. "Ach, das freut mich. Ich hatte schon eine Gastroenteritis oder einen grippalen Infekt im Verdacht, aber du siehst ja blendend aus."

"Danke", stammele ich. Sollte ich todkrank sein?, will ich ihn fragen, aber ich will die Antwort eigentlich gar nicht wissen. In meinem Kopf ist gerade nur Platz für Ellie und Ina, nicht für irgendwelche mysteriösen Krankheiten, die ich vielleicht habe. Dr. Sichelman sieht mich weiter erwartungsvoll an. "Ich war nur dehydriert", sage ich schließlich, damit er mich in Ruhe lässt.

"Das passiert den Besten." Er lächelt. "Also, kommst du mit rein?"

Deshalb gibt er nicht auf. Ich will ihn anschreien, aber natürlich tue ich das nicht. Im Moment fühle ich mich nur leer. Ins Haus der Sichelmans zu gehen, mit Ellie und Ina am Tisch zu sitzen und mit David, ist jetzt echt das Letzte, was ich will. Aber wenn Ellie sich heimlich mit Ina trifft, habe ich auch jedes Recht dazu, ihr Date zu unterbrechen. Ich schlucke.

"Ähm...klar", antworte ich so fröhlich wie ich kann. Als Dr. Sichelman mir die Haustür öffnet, höre ich gedämpftes Gelächter. Na super. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt