Noah
Ich löse mich aus Ellies Armen und küsse sie mit neu gewonnener Energie. Dann sehe ich aus dem Augenwinkel Dad und lasse mich auch noch von ihm umarmen. Ich bin seltsam sentimental, wenn auch nur für diesen Moment, dann verlassen wir zusammen die Halle und machen uns auf den Weg ins Vogelnest. Sofia und Ollie sind schon da, als wir ankommen, und Conny ist gerade dabei, eine Reihe verschiedener Kuchen und Häppchen anzurichten.
"Noah!", ruft sie, als sie mich und meinen Anhang sieht und lässt alles stehen, um mich zu umarmen, "Herzlichen Glückwunsch! Ich freue mich so für euch, Kinder. Ben, dich hab ich ja ewig nicht gesehen – und Ellie, meine Schöne!" Es ist süß, wie aufgeregt sie ist; jetzt umarmt sie meinen Dad, dann Ellie und drückt beiden ein Küsschen auf jede Wange. Als sie uns schließlich loslässt und wir uns hinsetzen, greife ich wieder nach Ellies Hand. Sie ist mein Anker, der mich gerade davon abhält, verrückt zu werden.
Wir essen und plaudern und immer wieder schaue ich zu Ellie, die mir ein kleines Lächeln schenkt, aber dann wieder wegschaut. Conny lenkt das Thema auf unsere Zukunft und ich fange an, über mein Stipendium und über die neue Wohnung zu reden. "Und du, Ellie?", fragt Conny dann und Ellie lenkt schnell das Thema um und lacht: "Heute ist nicht mein Abend, heute geht's um Sofia und Noah." Ich lache mit, aber irgendetwas in meiner Magengrube regt sich.
Draußen ist es schon dunkel geworden, und als aus dem Nachmittag Abend wird, zieht mich Ellie nach draußen, vorbei an den Scheiben des Cafés. Ins Gebüsch, wo wir für uns sind. "Puh", atmet sie laut aus und zieht mich an der Taille zu ihr, um mich zu küssen, "Wie fühlst du dich?" Es ist kalt geworden.
"Gut", antworte ich ihr wahrheitsgemäß. Mir geht es wirklich gut, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mich nicht nach draußen gezogen hat, um über meinen aktuellen Gefühlszustand zu reden.
"Okay." Ich bemerke das Flattern in ihrer Stimme und weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. Ehrlich gesagt verhält sie sich schon seit Tagen anders, aber ich habe gedacht, es hängt mit diesem Abend zusammen. Dass es nur die Aufregung ist. Jetzt fühle ich den Klumpen in meinem Magen, ein Kloß, der so schwer wiegt, dass er mir ein Loch in meine Magengrube zu brennen scheint und weiß, dass es etwas anderes ist. Etwas, das sie nicht noch länger für sich behalten kann.
"Was ist los?", frage ich sie, obwohl ich Angst vor der Antwort habe. Hat sie eine Andere kennengelernt? Die Frage schleicht sich glühend heiß in eine Ecke meines Hinterkopfes, obwohl ich mit aller Kraft versuche, sie zu verscheuchen. Bitte nicht. Bitte. Alles, nur nicht das. Ich wüsste nicht, wie ich das verkraften sollte. Eine gefühlte Ewigkeit lang antwortet sie nicht und mit jeder Sekunde, die ich warte, werden die Szenarien, die in meinem Kopf umherschwirren, schlimmer.
Schließlich räuspert sie sich.
"Ich werde wegziehen."
Ellie
"Was meinst du damit?" Die Worte fallen langsam aus Noahs Mund, eins nach dem anderen, als hätte sie Schwierigkeiten damit, sie zu einem verständlichen Satz zusammenzusetzen. Sie sieht noch strahlender aus als sonst: Ihre elfenbeinfarbene Haut wirkt durch ihr pfirsischfarbenes Kleid ganz rosig-zart, als würde sie von innen leuchten, und trotzdem ist jegliches Leuchten in diesem Moment aus ihrem Gesicht verschwunden. Ich sehe in genau das fassungslose Gesicht, das ich die ganze Zeit versucht habe, zu vermeiden.
Ich reiße das Pflaster in einem Ruck ab. "Ich werde ein halbes Jahr ins Ausland gehen, N." Autsch. Es auszusprechen, ist etwas ganz anderes, als darüber nachzudenken. Jetzt ist es wahr und nicht mehr nur eine Idee in meinem Kopf. "Fünf Monate, um genau zu sein", rede ich weiter, in der Hoffnung, es damit besser zu machen. Ich will sie gar nicht anschauen. "Ich wollte es dir sagen, wirklich. Aber ich konnte dir diesen Abend nicht verderben."
Eine Weile lang sagt Noah gar nichts. Sie sieht mich nur an, mit leerem Blick, als hätte jegliche Energie ihren Körper verlassen. Dann, als sie sich wieder gefangen hat, bringt sie ein einziges Wort zustande: "Wann?" Ihre Stimme ist ganz trocken.
Ich schlucke. Zähle die Sekunden, als gäbe es einen geeigneten Zeitpunkt dafür, ihr das zu sagen, was sie nicht hören will. "Ich werde Anfang August abreisen", antworte ich ihr schließlich. Wie oft schon habe ich die selbe Rechnung gemacht – die Wochen und Monate gezählt, die uns hier noch bleiben? Oft genug. Falls sie diese Wochen überhaupt mit mir verbringen will, nach dem, was ich ihr gesagt habe.
"Nein." Ist das Wut in ihrer Stimme? Ich könnte es ihr nicht mal übelnehmen. "Nein", wiederholt Noah, langsam, als müsse sie sich ihrer eigenen Worte bewusst werden, "Wann hast du es gewusst?"
Ich entscheide mich für die Wahrheit, weil es jetzt eh keinen Unterschied mehr macht.
"Am Tag, nachdem du die Zusage zu deinem Stipendium bekommen hast."
"Wow." Es ist ein bitteres Wow, in dem alle Vorwürfe stecken, die sie jetzt gerade nicht ausspricht, aber mir nur zu gerne entgegenschleudern würde. Ich habe diesen Moment wochenlang herausgezögert und jetzt ist er gekommen und ich kann mich nicht mehr vor ihm verstecken. Es gibt kein Zurück mehr, nur noch ein Weiter. Augen zu und durch. Und trotzdem wünschte ich, ich könnte meine Worte ungeschehen machen, könnte Noah noch einen einzigen Tag lang vor dem Wissen bewahren, dass ich das Jahr nicht mit ihr verbringen werde. Dass ich in ihrem ersten Uni-Semester – gerade in dem ersten – nicht an ihrer Seite sein werde, sondern die Zeit nutzen will, herauszufinden, was ich will. Am liebsten würde ich es ihr erklären, aber ich weiß, dass nichts, was ich jetzt sagen könnte, etwas ändern würde.
"Es tut mir so Leid, Noah", ist das Einzige, was ich zu ihr sage. Es stimmt. Nichts hat mir je so Leid getan. Ich sehe, dass sich Noahs Augen mit Tränen gefüllt haben, obwohl ihr Gesicht noch wütend ist. Ich weiß, dass sie sich jetzt gerade auf die Zunge beißt, um nicht loszuweinen. Und es tut mir so, so unglaublich Leid, dass ich der Grund dafür bin. Schließlich lächelt Noah, sie zwingt sich zu einem Lächeln, obwohl ihr Tränen über die Wangen laufen.
"Ist schon okay", sagt sie mit zittriger Stimme und wischt sie mit ihrem Handrücken weg, "Das ist einfach dein Ding Ellie, oder? Du gehst, bevor es ernst wird."
Ich antworte ihr nicht. Natürlich könnte ich protestieren, könnte ihr sagen, dass das mit Ina etwas ganz anderes war. Dass es bei Ina um Ina ging und es bei Noah nicht um Noah, sondern um mich geht. Stattdessen lasse ich sie glauben, was sie von mir glauben will. "Es tut mir so Leid, N." Es bricht mir das Herz, sie so zu sehen. Sie ist wie eingesunken in ihrem Kleid, geschrumpft zu einer winzigen, traurigen Person. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, aber ich weiß, dass sie mich wegschubsen würde. "Ich liebe dich", sage ich mit schwerer Stimme.
Noah sieht auf, schluchzend. Ich liebe dich, sagen ihre Augen zurück, aber sie spricht es nicht mehr aus. Vielleicht habe ich das kaputt gemacht – ihr den Mut genommen, mir zu sagen, was sie fühlt, zumindest jetzt gerade. Es sind nur fünf Monate, will ich zu ihr sagen. Wir werden das überstehen. Fünf Monate werden nichts an unseren Gefühlen ändern. Und ich weiß, dass ich damit teilweise recht habe: Fünf Monate werden nichts an meinen Gefühlen für sie ändern. Ich bin mir nur nicht mehr sicher, ob das auch umgekehrt so ist.
Stattdessen schweige ich.
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Noah &
RomanceAls Noah ihren Freund zu dessen Geburtstagsparty begleitet, rechnet sie mit vielem - nur nicht mit Ellie, Davids älterer Schwester, die nicht nur lesbisch, sondern auch wahnsinnig einschüchternd ist. Als die beiden sich beim Flaschendrehen näher kom...