16 - Dunkel

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Noah

Im Seitenspiegel eines an der Straße geparkten Autos tupfe ich mir Concealer auf meine Augenlider und die Nase. Beides ist immer noch rot und angeschwollen - es sieht ein bisschen aus, als hätte sich ein Schwarm Bienen auf meinem Gesicht ausgetobt, aber zumindest sehe ich nicht mehr ganz so verheult aus wie vorher. Nachdem Ellie gegangen ist, war ich mir sicher, dass nach heute alles wieder gut werden würde, aber irgendwie habe ich es geschafft, alles noch schlimmer zu machen.

"Scheiße", fluche ich und halte mir meine kühlen Hände gegen die geschlossenen Lider. Meine Augen brennen vom Weinen und meine Schläfen pulsieren vor Schmerz. Ich habe ihm alles erzählt. Irgendwie kann ich es immer noch nicht ganz glauben. Aber sobald Ellie gegangen ist, sind die Worte aus mir rausgepurzelt. Ina, der Einbruch, unser Spiel, der Kuss. Der Kuss.

"David, ich weiß nicht, wieso ich das gemacht habe, aber ich musste sie einfach küssen", habe ich versucht, mich zu erklären, aber das hat ihn nur noch wütender gemacht. So wie heute habe ich ihn noch nie erlebt.

"Das kann nicht dein Ernst sein, Noah", hat er immer wieder gesagt, "Das kann nicht dein fucking Ernst sein." Er hat meine Entschuldigungen nicht hören wollen und irgendwie kann ich ihm das nicht mal übel nehmen, weil sie erbärmlich sind. "Ich hab's die ganze Zeit gewusst", hat er geschnaubt, "Und ihr wagt es, mir ins Gesicht zu lügen."

Ich ziehe mein vollgerotztes Taschentuch von eben aus meiner Jackentasche und schnäuze mir die Nase, die schon wieder angefangen hat, zu laufen. "Du kannst mich mal", hat David gesagt. Nicht geschrien, sondern ruhig und kalt. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke. Mir ist wirklich übel, als müsste ich mich jeden Moment übergeben.

Ein Auto fährt an mir vorbei und ich wende mein Gesicht ab, damit der Fahrer mein Elend nicht sehen kann. Ich hab es schon immer gehasst, in der Öffentlichkeit zu heulen und von jemandem darauf angesprochen zu werden ist jetzt wirklich das letzte, was ich brauche. Ach, mir geht's gut, mein Freund hat sich nur gerade von mir getrennt, weil ich seine Schwester geküsst habe. Tränen laufen mir über die Wangen, als ich mich in Gedanken korrigiere: Ex-Freund.

Das Auto hat angehalten und mit gebücktem Kopf laufe ich daran vorbei. Diese Creeps sollen mich einfach in Ruhe lassen. "Hey", ruft eine Stimme von hinten und ich blende sie einfach aus. Ich höre Schritte, die sich annähern, also gehe ich noch ein bisschen schneller, bis ich fast schon renne.

"N, bleib doch mal stehen." Als ich Ellies Stimme erkenne, breche ich auf der Stelle zusammen. Meine Knie geben unter mir nach und im nächsten Moment liege ich schluchzend auf dem Asphalt und erkenne alles nur noch unscharf, weil mir meine Tränen die Sicht verschleiern. "Scheiße, Noah, scheiße, hier, komm." Sie zieht mich in ihre Arme und drückt mein Gesicht in ihre Schulter. Ich heule in ihren Pulli hinein, der so erdig nach ihr riecht und nach indischem Curry, warum auch immer.

"Magst du ein bisschen spazieren gehen?", fragt sie mich nach einer Weile, und ich nicke an ihrer Schulter. Sie streicht mir übers Haar. "Vielleicht nicht hier, ich kenn da eine Stelle." Ihr Auto steht immer noch mit eingeschalteten Scheinwerfern direkt auf der Straße. Schweigend steige ich ein und bin froh, dass die Dunkelheit meinem verheulten Gesicht zumindest ein bisschen Privatsphäre verschafft.

Wir fahren eine Weile durch die Stadt und ich will schon fragen, ob sie weiß, wo sie hinwill, als sie sich in einer Parklücke zwischen zwei Autos parallel einfädelt. "Hier hoch." Ellie hat meine Hand gegriffen und zieht mich die Straße entlang, eine Treppe hoch, die sich zwischen zwei Wohnhäusern in die Höhe schlängelt. Die Stufen scheinen sich ewig zu ziehen, bis sie schließlich flacher und grasiger werden. "Noch ein bisschen weiter", flüstert Ellie sanft und zieht mich voran, weiter den Hügel hoch.

"Wow", hauche ich. Ich weiß, dass wir auf einer mehr oder weniger freiliegenden Wiese sind, die an einen Wald grenzt, weil ich das nasse Gras an meinen Knöcheln fühle und die Umrisse der Baumkronen auf der linken Seite sehe, aber das ist es nicht, was mich zum Staunen bringt. Es ist der Ausblick auf der anderen Seite. Von hier aus sieht man die ganze Stadt; zahlreiche kleine, beleuchtete Häuschen reihen sich aneinander, ich kann sogar die beleuchteten Scheiben des Vogelnests erkennen und die Straßenlaternen sind so klein wie Stecknadelköpfe. Die Stadt wirkt so winzig und fast schon weihnachtlich mit ihren vielen, gelben Lichtern. "Das ist wunderschön", sage ich.

"Das ist mein absolut liebster Platz in dieser Stadt", sagt Ellie und drückt meine Hand, "Und kaum einer weiß davon." Obwohl es dunkel ist, kann ich ihren Blick auf mir spüren. Sie hat nicht ein einziges Mal gefragt, was vorgefallen ist.

"Willst du nicht wissen, was los ist?", frage ich leise.

"Willst du darüber reden?", kommt zurück. Ich muss ein bisschen lachen. "Nein", antworte ich ihr. "Gut", sagt sie. Eine Weile stehen wir so da auf der Wiese, unsere Finger in einander verschränkt, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Dann löst sie sich von mir und im nächsten Moment kann ich ihren warmen Atem auf meinem Schlüsselbein spüren.

"Es tut mir so unglaublich Leid", sagt sie leise. Ihre Stimme ist schwer und süß. Ich antworte ihr nicht, atme nur weiter ihren erdigen Duft ein, sauge die Wärme auf, die von ihr ausgeht. Es ist so dunkel, dass ich kaum ihren Umriss vor den Baumkronen ausmachen kann, aber ich strecke eine Hand aus und finde ihren Arm. Ellie, Ellie, Ellie. Sie ist alles, an das ich denken kann. Ellie, Ellie, Ellie. Sie steht jetzt direkt vor mir, nur wenige Zentimeter von mir entfernt. "Ellie", flüstere ich schließlich, und es ist, als würde ihr Name wie ein Zauberwort die Spannung brechen, die zwischen uns in der Luft hängt. Ihre Hand umfasst von hinten meine Taille und im nächsten Moment hat sie mich an sich herangezogen, in einer fast stillen Verzweiflung, und presst ihre Lippen auf meine.

Die ganze Stadt im Rücken küssen wir uns ein zweites Mal richtig, und dieses Mal gibt es niemanden, der mich zurückhält.

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt