9 - Streit

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Ellie

Als ich mich von Noah verabschiede, fühle ich mich ganz frei, so als sei jeglicher Ballast der letzten Tage mit einem Mal von mir abgefallen. Seit der Aktion von heute sehe ich sie in einem ganz anderen Licht, trotz all dem, was in der letzten Woche vorgefallen ist. Zuhause angekommen rieche ich immer noch den Duft von Noahs Haaren, Vanille und Zitronengras.

Ich rieche sie noch, als ich fast mit David zusammenstoße. Weil mein Kopf noch bei Noah und mir ist, wie wir zusammen die Poster im Schulfoyer abreißen, Noah und mir, wie wir sie im Müllcontainer an der Straße vergraben, Noah, wie sie mich umarmt und mich fragt, ob wir nochmal etwas zusammen unternehmen.

"Wow, dich hab ich ja ewig nicht gesehen", sagt er dramatisch und lacht.

"Ich war beschäftigt."

"Oh je, was hast du mit deinem Hexenzirkel ausgeheckt?", scherzt er. Ich lache: "Du bist die Oberhexe von uns beiden." Plötzlich habe ich den Drang, ihm alles zu erzählen. "Jetzt wo du schon fragst, ich war mit deiner Freundin unterwegs."

"Mit Noah?", fragt er mit offenem Mund.

"Hast du noch eine Freundin?", ich ziehe meine Augenbraue hoch.

"Nein, ich hab mich nur... gewundert." Er schließt seinen Mund. "Auf meiner Party hat es noch nicht so ausgesehen, als wärt ihr die besten Freunde."

"Ja, das und...nichts." Ich schneide mir selbst das Wort ab. Noah hat ihm nicht erzählt, dass sie mich und Ina im Wohnzimmer erwischt hat. "Wir haben das geklärt", sage ich nur und zucke mit den Schultern, "Noah und ich sind... okay."

"Wow", sagt er monoton, aber lächelt dann. "Nein, El, das ist toll. Meine Freundin und meine beste Freundin..."

"Komm nicht auf falsche Ideen!" Ich hebe warnend den Zeigefinger und er stimmt in mein Lachen ein. Bei den Worten beste Freundin wird mein Inneres ganz warm. Als wir Kinder waren, hat David immer gescherzt, dass er keine Freunde bräuchte, weil er schon mich hätte und jetzt sieht es fast so aus, als wäre ich wirklich auf dem Weg dahin, seine beste Freundin zu werden. Nur, wenn man Jona nicht mitzählt, natürlich.

"Hey, wollen wir uns vielleicht einen Film reinziehen oder so?", frage ich ihn plötzlich. Wir haben ewig nichts mehr zusammen gemacht und ich vermisse es, Zeit mit meinem Bruder zu verbringen.

"Eigentlich gern, aber...", er zieht einen Mundwinkel hoch und grinst schief, "Solltest du das eher nicht mit deiner Freundin machen?" Shit, Ina. Ich ziehe mein Handy aus meiner Hosentasche. Es ist auf Nicht stören eingestellt, weil ich, naja, nicht gestört werden wollte. 14 verpasste Anrufe verspottet mich das Display. Sie sind alle von Ina.

"David, ich muss-" Er versteht mich, auch ohne dass ich ein weiteres Wort sage. "Zu Ina. Schon verstanden." Er grinst. Als ich mich umdrehe, hält er mich sanft am Arm zurück: "Vielleicht morgen, El? Ich glaube, es wird Zeit für einen Rewatch von Barbie Fairytopia."

"Unbedingt", zwinkere ich ihm zu und lächele. Als wir Kinder waren, haben wir zusammen sämtliche Barbie-Filme geschaut, weniger, weil sie mich sonderlich interessierten, sondern vielmehr, weil David eine Rechtfertigung dafür gebraucht hat, sie sich anzuschauen. Und als große Schwester war ich die naheliegende Rechtfertigung gewesen. "Dann bis morgen?", frage ich ihn. Er nickt und hält mir die Tür auf. "Bis morgen, El. Lass dich nicht allzu sehr von Ina anscheißen." – "Ich versuch's."

Als ich vor Inas Tür stehe, weiß ich nicht, was mich erwartet. Stehe vor deiner Tür, schreibe ich ihr, weil ich um diese Uhrzeit nicht mehr klingeln will. Kaum zwei Sekunden später öffnet sie mir die Tür, als hätte sie nur auf meine Ankunft gewartet. "Wo warst du?", zischt sie.

"Ich freu mich auch, dich zu sehen", entgegne ich ihr und folge ihr ins Innere des Hauses. Kaum sind wir in ihrem Zimmer angelangt, fängt sie an, mich wild zu küssen. Sie zieht mich an sich heran, drückt ihren warmen Körper gegen meinen, der von meinem Nachtspaziergang noch am frösteln ist. "Hey, was soll das?", lache ich in ihren Kuss hinein. Sie fühlt sich so gut an.

Sofort versteift sich ihr Körper und sie lässt mich los. "Was soll das?", wiederholt sie meine Worte ungläubig, "Willst du mich eigentlich verarschen, El? Das ist 'ne Frage, die ich dir stellen sollte."

"Ina, wovon redest du?" Ich habe ja schon bemerkt, dass sie nicht sonderlich begeistert war, als sie mir eben die Tür geöffnet hat, aber nachdem sie so über mich hergefallen ist, habe ich mit diesem plötzlichen Umschwung nicht gerechnet.

"Ich habe stundenlang nichts von dir gehört! Keine Nachricht, du reagierst nicht auf meine Anrufe! Wir waren verabredet und das ist nicht das erste Mal, dass du mich versetzt hast. Ich hab mir Sorgen gemacht!" Aber ihr Gesicht ist keins der Sorge, sie ist wütend. Beinahe schon trotzig wie ein kleines Kind. Ich weiß nicht warum, aber ihr Gesichtsausdruck bringt mich zum Lachen. Bevor ich mich zurückhalten kann, bricht es aus mir heraus.

"Das ist, weshalb du sauer bist?", frage ich sie und lache. "Du bist nicht meine Mutter! Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig darüber, was ich rund um die Uhr mit wem mache!"

"Stimmt, ich bin deine Freundin." Sie funkelt mich an, als fände sie mein Lachen und die ganze Situation so gar nicht witzig. "Und ich finde schon, dass es mich als deine Freundin was angeht, was du mit wem machst." Ihre Stimme hat einen ganz spitzen Unterton bekommen.

"Weißt du was?", sage ich aus einer Laune heraus, "Vielleicht hast du Recht. Ich war mit Noah unterwegs, das wolltest du doch hören, oder?" Meine Stimme wird lauter; ich habe kaum registriert, dass ich angefangen habe, zu schreien. "Und das war wohl das MINDESTE, was ich tun konnte, nach dem, was DU IHR ANGETAN HAST!"

"Wie bitte?" Ina starrt mich mit offenem Mund an. Ihre Stimme bebt und ich weiß, dass sie ganz kurz davor ist, auch mit dem Schreien anzufangen. "Bist du noch ganz dicht? Diese bescheuerte Hete hat uns doch hinterherspioniert, die hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun, wahrscheinlich steht sie selber auf-"

"ES REICHT, INA!" Ich breche aus und Ina verstummt. Wow. Wir haben uns schon oft gestritten, aber so laut ist es noch nie zwischen uns geworden. Jetzt tut es mir fast schon leid, dass ich sie so angeschrien habe.

"Weißt du", sagt sie nach ein paar Sekunden der Stille. Sie spricht wieder ruhiger, beherrschter. "Wenn du nur einmal so leidenschaftlich wärst, wenn es um was ginge, das uns beide betrifft, würde ich dir vielleicht abkaufen, dass wir eine Zukunft haben."

Der hat gesessen.

"Ina." In meiner Stimme klingt noch der Streit von eben nach. "Müssen wir das jetzt besprechen?"

"Oh, ich glaub, da gibt's nichts zu besprechen", sagt sie kalt und verschränkt die Arme vor der Brust. "Mach du ruhig dein eigenes Ding, Ellie, so wie du es eh immer tust. Wen kümmert es schon, ob wir zusammen ziehen, ob wir zusammen studieren." Ob wir zusammen sind. Sie braucht es nicht aussprechen.

"Also war's das jetzt?", spreche ich in die Stille hinein. Ich fühle mich plötzlich wie paralysiert, irgendwie unwirklich, als wäre ich nicht mehr in meinem eigenen Körper. Ina und ich, es war immer Ina und ich, seit mehr als zwei Jahren. Ina sieht nicht mal das kleinste bisschen traurig aus.

"Ich glaub, das war's schon lange", sagt sie.

Meine Beine tragen mich aus Inas Zimmer, aus dem Haus ihrer Eltern und raus in die Oktoberkälte, als wäre ich fremdgesteuert. Der Wind bläst wie verrückt, aber ich nehme alles um mich herum nur am Rande wahr. Die Bäume am Rande der Straße, die kleinen Gassen und Abzweigungen links und rechts vor mir rauschen an mir vorbei. Als ich vor dem Haus meiner Eltern angekommen bin, ziehe ich fast reflexartig das Handy aus meiner Hosentasche.

Hast du morgen Zeit?, sehe ich mich tippen. Ich muss kaum zehn Sekunden auf eine Antwort warten.

Gerne, schreibt Noah. Ich kann mich nicht davon abhalten, zu lächeln. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt