Sieben der Bolzen hatten getroffen – einer ins Schwarze, die Übrigen nicht mehr als ein oder zwei Fingerbreit davon entfernt. Mehr als zufriedenstellend, beschied sie. Immerhin stand zu bedenken, dass zu dieser Zeit das Licht des Kriegsschildes blendend über die westliche Mauer in den hinteren Hof einfiel – und dass ihre Gedanken ohnehin um Wichtigeres kreisten.
Aber genau davon sollte mich diese Übung ja ablenken.
Sie ließ die Armbrust sinken und sah zu, wie die Wolke aus Staub und Splittern, die der letzte Bolzen verursacht hatte, allmählich zerstob. Er war gänzlich vom Kurs abgekommen und hatte den Rand der Zielscheibe durchschlagen, um im Feuerholzlager dahinter zu verschwinden. Ein weiterer Schaden, den sie auf der schier endlosen Liste von Mängeln, die die Anlagen der Burg betrafen, anreihen musste. Nicht, dass sie hoffen konnte, jemand würde sich dieser Litanei bald annehmen können.
Mit einem Tuch wischte sie sich über die Stirn und die Wangen, doch hob ihr Gesicht dann noch einmal den Strahlen des Kriegsschildes entgegen. Es war der erste fröhliche Tag nach Wochen von Nebel und Regen, Frost und Schnee. Der Himmel lag strahlend blau über den blassen Granitmauern der Manderburg und nur in großer Höhe – vielleicht dort, wo bei Nacht die Kerzen und die Laterne des Nachtwanderers hingen – zogen einige feine, weiße Wolken dahin. Hielt sie die geschlossenen Lider so der feurigen Goldscheibe entgegen, konnte sie sich fast vorstellen, dass Sommer eingekehrt war. Doch dann fuhr der Wind wieder durch die Zinnen, bauschte die Säume ihrer Röcke und zerzauste ihr Haar.
Sie fröstelte. Also legte sie sich die Armbrust am Gurt auf den Rücken und trat den Rückweg an zu den Briefen und Gesuchen, die auf sie warteten. Sie kam nicht weit, ehe sie Kampfeslärm vom Weg lockte.
»Aufhören!«, jammerte einer der Krieger. Er war kaum mehr bei Atem. Die Zuschauer aber applaudierten und feuerten die Kontrahenten weiter an.
»Bitte! Nein!«, flehte der offensichtlich Unterlegene, und taumelte rückwärts, bedrängt von Hieb und Stich und Schlag. Wieder fuhr die Waffe des Feindes in die Höhe, schnell und kräftig. Schon kam sie herab, fauchend, als das Holzblatt die Luft durchfurchte. Sie traf den alten Helm wie ein Glockenschlag und der Geschundene wankte kurz, ehe er in die Knie brach.
»Gnade! Aufhören!«, heulte er, ließ die Waffe fallen und riss die Hände in die Höhe. »Bitte! Nicht mehr!«
Der Angreifer lachte auf, schnitt mit dem nächsten Hieb bloß über den Kopf seines Gegners hinweg und versetzte ihm einen Stoß in die Seite. Kreischend stürzte der andere um. Eine träge Staubwolke löste sich aus dem Dreck, wo er aufschlug und sich zusammenrollte.
Der Siegreiche aber hatte keine Aufmerksamkeit dafür. »Du hast nicht hart genug gekämpft, Schuft!«, rief er aus. Er hob sein Schwert in die Höhe. Anders als sein Kontrahent trug er keinen Helm, und so warf er die dunklen, verschwitzten Haare mit einem Ruck des Kopfes aus der Stirn. Den Zuschauern zeigte er sein Lächeln. Es waren nur wenige – eine Handvoll Bediensteter, die in ihren Arbeiten innegehalten hatten und klatschten, doch der Beifall ebbte schnell ab, als die Herrin der Burg auf das Schlachtfeld trat. Mornell, eben noch triumphal, ließ Waffe und Schild fallen und verneigte sich hastig.
»Ich hatte nicht gehört, dass ein Turnier ausgerufen wurde. Seid ihr die einzigen Recken?«
Liosendis besah sich Vernek, der auf ihre Worte hin sein Strampeln im Staub eingestellt hatte, sich schwerfällig auf die Knie rollte und so den behelmten Kopf vor ihr neigte.
»Oh, ich hätte gerne gegen einen der alten Knaben von der Burgwache gefochten, aber sie sagen, sie dürften ihre Posten nicht verlassen. Sie sagen, sie hätten keine Zeit, sich mit mir zu messen.«
Mornell grinste, doch der Ausdruck flackerte in seinem Gesicht wie eine Kerze, die sich des Windes erwehrte. Einen Moment lang sah er Liosendis an, dann schlug er die Augen zu Boden, dann schaute er wieder auf – schier unsicher, wo er nun hingucken sollte.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...