Sogar Scherben können zerbrechen.
Der Knabe erinnerte sie ein wenig an Wivine – das kleine Mädchen, das ihre Schwester war und ihr doch so unähnlich. Vielleicht waren es die dunklen Augen und das kindliche, runde Gesicht – noch so fern der Wandlung in das eines Mannes. Wahrscheinlicher aber waren es die schwarzen Locken, die so selten waren hier im Norden von Angloras und die der Tote und Wivine dennoch gemein hatten. Er war ein hübscher Bursche gewesen.
Gerettet hatte ihn dies nicht.
Er lag im Unterholz, wo ihm ein von fahlem Moos überwucherter Baumstamm und dürres, kahles Dornengestrüpp eine Wiege bildeten, als wollten sie ihn behüten. Für jeden Schutz aber war es zu spät. In seinem Schädel klaffte ein grässlicher Spalt. Blut und gelbliche Hirnmasse verklebten sein Gesicht, totes Laub und Dreck hafteten daran, als man ihn auf den Rücken drehte. Das eine Auge, das ihm geblieben war, blickte trübe in die Düsternis hinauf.
Sein Ende mochte einige Stunden her sein. Nun rückte Nachtmitte heran, und der Wald ringsherum rauschte, knackte und zirpte in vielerlei Stimmen, ohne Anteilnahme am Schicksal der Toten. Einzig der ferne Ruf einer Eule glich einem Klagelied, und das Rascheln der kahlen Zweige klang wie Geflüster im Tempel.
Hinter Clemendine trat einer ihrer Männer hin und her, fröstelnd in der Nacht.
»Wir sind so weit«, flüsterte er, als erschiene auch ihm jeder zu arge Laut wie ein Sakrileg. Clemendine erhob sich und kehrte auf die Lichtung zurück, gefolgt von anderen, die den Leichnam zu den übrigen toten Freunden ins Feuer warfen. Für einen Moment blieb sie dort stehen, ließ sich blenden, schloss dann die Lider und erlaubte der Wärme, an ihrer Haut zu lecken.
Schon lag der beißende Geruch von brennendem Fleisch und Haar, von Wolle, Leder und Fell in der Luft. Doch sie würde nicht Nase und Mund bedecken. Stattdessen hob sie die Fäuste und schaute auf.
»Der Schild-«, begann sie und die Scherben stimmten ein, »des Kriegers bewahre euch! Das Licht des Wanderers führe euch!«
»Keine Feuer!«, schrie sie, kaum da das Gebet verklungen war. »Wie oft muss ich es euch sagen, bis ihr versteht? Wenn ihr lagert, dann macht keine Feuer. Sie werden euch unseren Feinden verraten!«
Müde, mürbe Gesichter umringten sie, auf denen das Licht der Flammen tanzte; Augen, in denen sich flüssiges, betörendes Gold widerspiegelte. Niemand gab eine Antwort – und welche hätte es auch sein können?
»Ich habe es euch hundertmal gesagt. Müssen erst Freunde sterben, damit ihr versteht? Diese Sieben wollten hier auf uns warten, um sich uns anzuschließen. Aber es war ihnen zu kalt oder zu dunkel. Also haben sie ein Feuer gemacht und jetzt sind sie tot. Irgendwer hat sie gefunden; hat sie abgeschlachtet. Und jetzt müssen wir ihr Feuer nutzen, um ihre Seelen zu den Göttern zu befehlen und vor dem Dritten zu bewahren. Kein Licht ist das wert, keine Wärme und auch keine warme Mahlzeit!«
Innehaltend rieb sie sich das Gesicht. Die Flammen zogen sie an, genauso wie die vielen Männer, die sie umgaben. Wie Motten strebte der Mensch stets ins Helle und suchte die Wärme. Ich verstehe doch, gestand sie. Ich habe das Frieren satt, aber nur hier draußen können wir unsere Bestimmung erfüllen.
Stattdessen rief sie wieder, als sie fortfuhr: »Wenn hier jetzt noch wer ist, der nicht versteht, wie gefährlich Feuer sind, der werfe sich zu den anderen und erspare uns allen die Mühe und den Kummer!«. Clemendine machte auf dem Absatz kehrt und schritt zurück zu ihrer Stute. Als sie aufsaß, hieb ihr eine Windböe ins Gesicht und wollte sie erschaudern lassen, doch sie wehrte sich dagegen. Das Pferd unter ihr war warm und kräftig.
Nach nur wenigen Augenblicken hatte sich die Lichtung geleert und auch die übrigen Scherben hatten ihre Pferde und Maultiere erklommen. Einzig Jarick zerrte noch etwas heran – einen jammernden und flehenden Burschen, dem das Blut einer Bauchwunde unter der zerschundenen Brünne hervorquoll. Er trug kein Abzeichen seines Herrn, aber das war ohnehin einerlei. Er war ein Feind – wer auch immer ihn geschickt hatte oder wem auch immer er entlaufen war.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasíaDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...