9 - Am Rande der Finsternis

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Für eine, vielleicht zwei Nächte hätte der ausgetrocknete See ihr Lager sein sollen, ehe sie der Weg wieder gen West geführt hätte. Dann aber waren mehr und mehr Gerüchte zusammengetragen worden von einer großen Schlacht nahe Lirell, und Clemendine hatte verkündet: »Wir werden hier bleiben und warten. Hetty, Grimmi und Rana werden irgendwann zu uns stoßen. Es ist mir egal, ob es eine Woche dauert, oder einen Monat. Wenn wir weiterreiten, dann wird es nur noch länger dauern. Wenn es etwas zu berichten gibt, dann werden sie zu uns kommen. Also bleiben wir hier.«

Sieben Tage sollten es werden, an denen Cle oft auf einem der Hänge des einstigen Seeufers hin und her marschierte und in die Ferne starrte, Ausschau haltend, auf dass sich endlich ein Reiter am Horizont zeigte. Die Scherben hatten indessen ihre Ausrüstung ausgebessert, Proviant aufgestockt, ihren Verwundeten und Alten Ruhe gegönnt und sich sogar die eine oder andere Lektion in Sachen Schwertkampf von Dalvin erteilen lassen.

Die Erste, die zu ihnen stieß, war Hetty auf dem Rücken ihres struppigen Maultiers, das sie bloß ›das Tier‹ nannte. Es war das Einzige, was ihr geblieben war aus ihrem Leben vor dem Krieg. Fremde hatten ihre Söhne und ihren Mann erschlagen, aber ihren Handelskarren und Hetty gestohlen. Später hatten sie einen Bauern überfallen und auch dort gemordet.

Hetty indes hatte sich ihre Rache geholt – nicht jedoch mit der abgebrochenen, schartigen Klinge, die sie aus ihrem zerschlissenen Stiefel gezogen hatte, um ihre Fesseln zu zerschneiden. Sie war hinausgeschlichen zu ihrem Karren, hatte eine kleine Dose aus Metall hervorgeholt und ihre Hände in lederne Lumpen gehüllt, ehe sie sie öffnete. Im Licht der Laterne des Nachtwanderers hatte das Pulver darin ausgesehen wie dunkler Sand, doch es war viel feiner – so wenig, so unscheinbar, so gefährlich. Wie Hetty.

Wieder in der Stube war sie zwischen den Trunkenen und Schlafenden umhergeschlichen, das Pulver in Becher und Weinflaschen streuend.

»Wein«, hatte einer gelallt und ihr Handgelenk ergriffen. Sie war steif geworden, aber bald waren seine Augen wieder zugefallen und er hatte weitergeschnarcht. Sie leerte die Dose in den Kessel, der über der Feuerstelle hing. Mit nur einem Umrühren war nichts mehr von dem Pulver zu sehen, doch sie rührte noch lange, damit es alles durchzog.

Schließlich hatte sich Hetty wieder gesetzt, zu den beiden Töchter des Bauern, die lebten, aber nicht verschont worden waren. Der Blick der Älteren hing an den Blutlachen, die noch immer auf dem lehmigen Boden standen. Die Jüngere war bewusstlos und ihr Leibchen hatte sich rot gefärbt.

In der Stunde des Steigens, als das Licht des Kriegsschildes blass durch milchige Fenster fiel, rappelten sich die Männer allmählich auf. Am Tage zuvor hatten sie nichts mit den Frauen geteilt, und taten es auch heute nicht. Hetty hatte sich mehrmals ermahnen müssen, den Blick zu senken. Während sie wartete, zerrte sie die Schnur, die einst ihre Fessel gewesen war, so fest um ihre Unterarme, dass sie bald blutete.

Ab und an ging einer der Männer hinaus, um sich zu erleichtern. Letztlich jedoch saßen sie alle zusammen an dem wackligen Tisch in der Stube, aßen Brot, tranken Wein, scherzten und lachten über die Frauen und die Toten, die ihren Weg gesäumt hatten. Sie schmiedeten Pläne, wie es weitergehen sollte, bis einer mit einem überraschten Lachen seinen Becher fallen ließ und erklärte, dass seine Finger kribbelten. Da wusste Hetty, dass es begann. Bald wurden jedem die Hände und Füße taub, dann die Arme und Beine. Krüge kippten um, Schalen fielen hin, Suppe und Wein vermengten sich zu einem dünnen Rinnsal, das vom Tisch tropfte und ins Stroh auf dem Lehmboden sickerte.

Nicht viel länger dauerte es, da war der Raum erfüllt mit dem Gestank von Erbrochenem, von Schweiß, Scheiße und Pisse. Die Männer wanden sich am Boden, hielten sich die Bäuche oder versuchten, ins Freie zu kriechen. Für Hetty war es ein Freudentanz. Das Gestöhne vom Tage zuvor war aus ihren Ohren verklungen. Sie hörte bloß noch das Wimmern der Sterbenden, ihr Gejammer, ihre Qualen.

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt