Als sie gegen Tagmitte auf die Treppe des Donjons hinaustrat, stach ihr das helle Licht des Kriegsschildes vom weiten, blauen Himmel hinab tief in den Schädel. Sie schloss die Augen und legte eine Hand vor die Lider, bis der Schmerz weitestgehend versiegte. Immerhin war die Luft angenehm kühl und frisch, was sie aufatmen ließ.
»Herrin«, rief Joc, einer der Pagen ihres Vaters, der ihr mit einem Mantel in Händen hinausgefolgt war. »Geht es Euch nicht gut?«
Liosendis winkte ab und ließ sich von dem Jungen in den Umhang helfen. »Ich habe nur ... schlecht geruht. Mach dir keine Gedanken.«
Es war eine Lüge, freilich. Sie hatte zu viel getrunken – und nicht aus Geselligkeit, sondern aus Trotz. Es war nicht genug gewesen, um sie wahrlich elend zu machen, dennoch hatte sie länger geschlafen, als sie es gewohnt war, und fühlte sich nun ausgetrocknet und ausgezehrt. Beim Ankleiden hatte ihr Odela, ihre Zofe, mehr helfen müssen als gewöhnlich, da es ihr gleich nach dem Erwachen noch an Gleichgewichtssinn gemangelt hatte. Ein leises Ächzen zwickte zwischen ihren Augen, welches schon vor dem Stechen des Tageslichts dort gewesen war und danach deutlicher zurückblieb.
Unterhalb der Treppe zu Liosendis' Füßen breitete sich das Schlachtfeld von Clemendines Armee aus, und der Anblick besserte weder ihre Stimmung noch ihr Befinden.
Zwar füllten die wackligen Zelte, auf denen der Tau glänzte – eine feine Zierde auf vollkommen unwürdigem Grund –, bisher nur einen kleinen Teil des Hofes. Die Feuerstellen und die aus den Burgräumen und aus dem Dorf herangeschleppten Bänke und Hocker, die Krüge und Teller und Bestecke, die Speisereste und der übrige Unrat waren indes überall verteilt. Die Männer hatten Holz für die Feuer geholt und Heu aus der Scheune gebracht, um sich die Lager bequemer zu machen, dabei aber schier die Hälfte auf den Wegen verloren. Liosendis widerstrebte es, sich auszumalen, welches Ausmaß die Verwüstung annahm, sobald zweihundert solcher Vagabunden die Manderburg befielen. Obwohl sie jeden Mann brauchte, hoffte sie fast, dass ihre Schwester in ihren wilden Tagen das Zählen verlernt hatte, und die Gesamtzahl ihrer Streiter geringer war.
Jenen, die schon hier waren, war Lio mit all der Gastfreundschaft begegnet, die ihr möglich gewesen war. Schließlich waren diese Männer ja eigentlich keine Gäste, sondern ein Heer! Und dennoch hatte sie ihnen erlaubt, sich im Gästehaus einzurichten, und ihnen ein üppiges Abendbrot bereiten lassen. Dann hatte sie sich unter sie gemischt und versucht, sich ihnen nahbar zu machen. Sie hatte sogar mit einigen angestoßen, wobei die Becher der Männer heftig gegen den ihren krachten und immer wieder Wein auf ihre Finger spritzte, bis der Kelch leer war. Seltsame Geschichten waren ihr erzählt worden, die vor Anzüglichkeiten nur so strotzten. Es war ihr schwergefallen, sich nicht abzuwenden von diesen Schurken, und oft genug hatte sie nicht einmal folgen können. Es war beinahe, als nutzen diese Menschen eine ihr unbekannte Sprache, und, wenn sie lachten, dann war Liosendis nie sicher, ob sie sich nicht über sie lustig machten.
Sie hoffte inständig, dass Clemendine den größten Abschaum ihrer Männer zuerst hergebracht hatte, um die ältere Schwester vor den Kopf zu stoßen.
Als sie nun in den Hof hinabschritt, drang von den Zelten Schnarchen in verschiedenen Tonlagen herüber; aus einem schauten dreckige Stiefel hervor. An anderer Stelle hatte jemand direkt neben einem Zelteingang erbrochen. Eine Armee nannten sie sich, doch würden Godfrey Hantigars Truppen nun ans Tor klopfen, die Manderburg müsste sich ebenso ergeben wie ohne dieses Pack, das sich als Verteidiger aufspielte. Liosendis missfiel der Gedanke, dem Feind einen solchen Anblick zu bieten. Lieber – so versuchte sie, sich weiszumachen – wollte sie die Burg kampflos übergeben.
Der Geruch des Lagers schlug ihr entgegen, bitter, rauchig und derb. Als habe sich eine Wand vor ihr aufgetan, blieb sie stehen und bedeckte unwillkürlich Nase und Mund.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...