18 - Über den Zinnen

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Die Glocken des Tempels läuteten bereits seit einer Weile. Der Priester mit seiner alten Silberschärpe hüpfte auf der Schwelle des Portals und seine Finger bewegten sich vor seiner Brust auf und zu, auf und zu, – gleich denen eines Steuereintreibers, der zusah, wie ein erfolgreicher Kaufmann seine Abgaben zusammenträgt.

Das Haus, das die Herren der Manderburg für ihre Götter errichtet hatten, war kein Kleines und hätte den Tempel mancher Stadt des Königreiches in den Schatten gestellt. Heute allerdings bot es nicht genügend Platz für all die Menschen, die zum Gottesdienst zusammenströmten.

Der Priester, ein hagerer, langer Kerl mit Rundrücken und einem Schopf schlohweißer Haare, die er sich im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte, hatte sich schon einige Male im Zeltlager der Scherben eingefunden und mit ihnen gebetet, aber heute war der erste Tag der Woche und an diesen riefen die Götter in den Tempel. Also hatte er die Tore weit geöffnet und früh begonnen, die Kinder des Glaubens zu sich zu rufen. Mit solchem Andrang aber war er gewiss in seiner Tätigkeit in der Manderburg noch nie konfrontiert worden.

Die Scherben überließen das Innere des Gotteshauses den Bewohnern der Festung und des Dorfes. Sie hatten Bänke, Felle und Decken auf der Wiese vor dem Tempel ausgebreitet, oder sich einen Platz auf der Mauer gesucht, die den benachbarten Übungsgrund der Burgwache von der staubigen Straße trennte. Dem Anblick so vieler Seelen, die gekommen waren, seine Worte zu vernehmen, schien der Priester kaum gewachsen. Längst war er hochrot und trotz der kühlen Luft des frühen Abends zeigten sich Schweißringe unter den Ärmeln seines Gewandes. Dennoch lächelte er und jedem, der ihm auch nur zu nahe kam, legte er eine Hand auf die Schulter oder das Haupt.

Irgendwann trat ein Messdiener zu ihm hinaus und der Priester schüttelte heftig den Kopf, gestikulierte erst nach den Glocken im Turmdach dann nach dem Donjon – doch dann sah er Liosendis und ihr Gefolge über die Wiese herüberkommen und er winkte den Knaben mit heftigen Regungen fort.

»Ein bisschen spät dran, meine Schwestern«, beschied Clemendine, die noch neben Dalvin unter den Bäumen am Rande des Zeltlagers lehnte. »Oh, es gibt wohl Schwierigkeiten in der Kleiderfrage.«

Wivine war einige Schritte vorweggestürzt, um aus der Gruppe zu entfliehen, und ließ die Zofe mit dem grünen Mantel in Händen hinter sich zurück. Liosendis nahm der Frau das Kleidungsstück ab, holte die jüngere Schwester ein und warf ihr den Mantel um die Schultern, als fange sie einen Fisch in einem Netz. Dabei trug Wivine bereits einen alten, abgewetzten Umhang. Das Mädchen zappelte und schüttelte den Kopf, sodass ihre dunklen Locken herumwirbelten. Dann gab Liosendis ihr einen Stoß und das Kind wurde starr. Es schien, als müsse sie sich einige strenge Worte ihrer Schwester anhören musste, doch keines davon fand den Weg hier herüber. Schließlich nickte Wivine, senkte den Kopf und ging weiter. Wie um jeden neuen Ausbruch zu verhindern, packte Liosendis sie am Arm und führte sie zum Tempel.

»Zeit für mich, zu gehen«, entschied jetzt auch Clemendine, warf den Rest des Apfels, den sie eben noch bearbeitet hatte, über ihre Schulter und machte sich auf den Weg, um sich unter ihre Männer zu mischen. Das Geläut der Schellen verklang allmählich und der Priester verneigte sich vor Liosendis, als diese endlich das Portal erreichte und eintrat.

Dalvin blieb allein unter den Bäumen zurück und kam nicht umhin zu bemerken, dass sich ebensoviele Köpfe der hinzukommenden Herrin der Scherben entgegenwandten, wie sie das kleine Mädchen in den übereinandergeschlagenen Umhängen verfolgten.

Hier, in der Manderburg, hatten die Zerbrochenen wieder allerhand Glücksbringer hervorgeholt und ihre Zelte damit geschmückt. Zwei ihrer Feuer ließen sie nie gänzlich herunterbrennen, und sie hatten mit angekohlten Stöcken eine tiefe Furche rings um das Lager in die Erde gekratzt, um den Dritten abzuhalten – worüber sich Liosendis keineswegs erfreut gezeigt hatte.

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt