25 - Scherbenhaufen

23 2 0
                                    

Die Steine der Mauerkrone – geküsst vom Licht des Kriegsschildes – waren warm unter ihren Fingern. Hier und dort wuchsen winzige Sprossen von Moos und Gras auf der rauen Oberfläche und zwischen den Fugen. Die Mauern, zu denen sie sich zusammenfügten hatten für Jahrhunderte standgehalten, Schutz geboten, Wind und Wetter und Blitz und Donner widerstanden. Vor ihnen waren Heere auf- und abgezogen, Könige gekommen und gegangen und über die Realmestratt durch ihr Land gereist. Glück und Elend, Fülle und Not hatten sie beschaut und waren doch nicht gewankt. Liosendis glaubte, zu spüren, wie weit die Gebeine der Festung in die Tiefen des Erdreiches ragten, wo sie sich mit den Wurzeln der Gebirge und den Ursprüngen der Flüsse verbanden, und mit den Adern aus Erz und Gold, nach denen man im Süden und im äußersten Westen hinter Adnays Bergen schürfte. Beide Arten von Stein, die im Inneren der Burg und die hier draußen, bildeten und bewahrten ihre Welt.

Doch nun war da etwas Fremdes. Etwas, das nicht sein sollte. Wie Schreie, die durch das Gelächter drangen. Wie ein Sprung im Glas.

Eine weiße Linie von vielen, vielen Zelten zeigte sich im Südosten auf einer Hügelzunge, die sich am Rande der Wälder in die Ebene schob. Blickte man lange genug hin, gewahrte man diffuse Regungen. Winzige düstere Punkte; Pferde, Menschen. Liosendis lehnte sich tief über die Brustwehr und bettete die Stirn auf die warmen Steine.

Ihr Kopf schmerzte – von den Rufen, die sie aus dem Donjon auf den Wehrgang getrieben hatten; von den Furchtschreien und dem Schrecken vieler, die ihr gefolgt waren. Vor allem aber wegen des Streits mit Clemendine.

»Vierzig, hat dein Spitzel behauptet«, sie hatte gewusst, dass ihre Stimme scharf klang, aber sie hatte gegen den Wind in der Höhe ankämpfen müssen – und noch mehr gegen die Entrüstung. »Vierzig! Kann sie nicht zählen?«

Cle hatte sie einen langen Moment angestarrt, das Blau ihrer Augen zwischen den schmalen Lidern beinahe verborgen. »Natürlich kann sie zählen«, war ihre Antwort, nicht weniger schneidend.

»Dann müsste ich nun annehmen, dass sie gelogen hat!«, rief die Ältere aus. Liosendis warf die Hände gen das Lager des Feindes. Es waren sogar mehr als vierzig Zelte. Wahrscheinlich doppelt so viele, vielleicht dreimal so viele.

»Grimmi lügt nicht!«

»Wie kommt sie dann auf vierzig? Sie hat uns hinters Licht geführt. Sie hat uns aufs Feld hinausreiten lassen im Glauben, unsere Feinde wären uns weit unterlegen. Hat sie dich auch so beraten, wenn du mit deiner Armee durch den Wald gepirscht bist?«

Clemendine fuhr mit den Armen durch die Luft, drehte sich dabei im Kreis und ließ sich sodann mit voller Wucht gegen das Geländer des Wehrgangs fallen. Dieses blinde Vertrauen, dass die alten, lange vernachlässigten Balken nicht nachgeben würden, hatte Liosendis aufstöhnen lassen, doch Cle hatte das nicht gehört.

Sie lachte jetzt, schüttelte den Kopf und die roten, knotigen Locken wirbelten ihr um den Kopf. »Was weißt du denn schon von Spitzeln und Armeen oder dem Heranpirschen an den Feind? Du hast Mornell 'rausgeschickt! Mornell! Und was hat er dir gebracht? Nichts! Du hast nicht einmal Spitzel, also halt dein Maul, was meine betrifft!«

Liosendis schnappte nach Atem und wollte widersprechen, aber Clemendine ließe sie nicht. Sie lachte noch immer, wann immer sie Zeit fand zwischen ihren Worten, doch auf ihrer breiten Stirn hatte sich eine Zornesfalte gebildet. »Du kannst natürlich bis vierzig zählen, das wissen wir alle. Du bist so klug! Hast du denn vierzig Soldaten, Liosendis? Nein? Nein, die hast du nicht. Du bist eine Königin mit leeren Händen, also spiel dich nicht so auf. Setz dich in dein Schreibzimmer, schreib ein paar Briefe und Beschlüsse im Namen des Herzogtums und lass mich und meine Armee tun, weshalb wir hier sind.«

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt