28 - Papierfiguren

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Manchmal glaubte er, dass Lucius ihm etwas zuflüsterte. Lauschte er jedoch in die Stille hinein, so erkannte er, dass es einzig der Wind war, der um die Mauern der Spyndille strich. Dann setzte sich der Junge in der Dunkelheit auf und blickte sich um. Rasch zerrannen die Formen seines eigenen nächtlichen Zimmers und das düstere, untere Turmzimmer drängte in die Wirklichkeit. Die Gerüche, Geräusche und Gefühle der Träume lösten sich auf, und die grobe Matratze, die man auf die spröden Dielen geworfen hatte, blieb neben ihm leer.

Dennoch tastete er darüber, suchte mit Fingern nach der Wärme, die Lucius hinterlassen hätte. Oft war sein Bruder früh am Morgen schon wach und nahm aus Langeweile keine Rücksicht darauf, dass der Ältere noch ruhen wollte. Manchmal auch trank er am Abend zu viel und musste ständig austreten, oder er stahl sich aus dem Bett, um bei Regia zu schlafen. Diese Nächte waren Julius die Liebsten gewesen.

Jahrelang hatte er mit Lucius ein Zimmer geteilt und sich nie darüber beschwert. Heimlich jedoch hatte er sich ein eigenes Bett gewünscht – oder einen ruhigeren Bruder.

Nun war dieser Bruder tot, die Matratze kalt. Niemand flüsterte ihm zu. Niemand trat oder zwickte ihn. Und Julius presste sich die Hände vors Gesicht, um die Tränen dahinter zu ersticken. Er wusste nicht, ob vor der verschlossenen Tür vielleicht die Ritter Hantigars lauschten. Sie sollten ihn nicht weinen hören.

Am Tage mochte es ihm gelingen, sich zu Hochmut gegenüber dem Grafen zu zwingen, dessen Blicke zu erwidern, das Haupt erhoben zu halten. ›Ich bin ein Prinz‹, hatte er dem Mann in Erinnerung gerufen. ›Die korrekte Anrede lautet Eure Hoheit oder Prinz Julius. Bei Nacht aber, wenn er unter der Decke fror, nur der Wind zu hören war, die Matratze allein ihm gehörte und ihn die karge Welt der Spyndille umschloss, dann blieb ihm nicht die Kraft dazu. Dann war er kein Prinz, sondern einzig noch ein Junge namens Julius. In der Leere solcher Stunden versuchte er, sich die Gesichter jener vor Augen zu führen, die er geliebt hatte – oder sich des Klangs ihrer Stimmen und ihres Lachens zu entsinnen.

Doch die Erinnerungen waren bereits jetzt vage. Umso mehr er sich mühte, desto leichter entglitten sie ihm. Die Vergangenheit, obwohl nur wenige Tage alt, schien in umso weitere Ferne zu rücken, desto kräftiger er sich an sie klammerte und sie zu packen versuchte.

Eben erst war Marcius aufgesessen, sein Lächeln mutig und zuversichtlich, dabei wussten sie alle, wie nah der Feind herangerückt war und wie schlecht sich das Schicksal für sie gewandelt hatte. Dennoch hatte er gelacht.

Ehe er die Burg verließ, um Almar entgegenzutreten, hatte Marcius Julius lange und fest umarmt, doch nicht aus Angst oder böser Vorahnung. Wie ungünstig die Zeichen auch standen, er würde zurückkommen! Nie hatte Julius mit etwas anderem gerechnet. Es hatte nicht in die Welt gepasst, die er kannte.

Gemeinsam mit Darius und Medard Vercelle hatten sie gescherzt, bis König und Herzog davongeritten waren. Es war der letzte glückliche Moment gewesen, und Julius erschien es, als wäre er eben erst vergangen. Konnte er nicht seinen Bruder zurückrufen? Konnte er nicht Darius, der mit ihm den Aufbrechenden nachschaute, packen und schütteln, damit der ihm half, alles abzuwenden, was geschehen sollte?

Doch der Darius seiner Erinnerung war ebenso flüchtig wie die übrige Vergangenheit: Nichts als Bilder, derer sich einzig noch er entsann. Niemand sonst. Und er würde vergessen, gleichgültig, wie sehr er bewahren wollte, was er liebte. So wie allmählich die Gesichter seiner Eltern aus seiner Erinnerung verblasst waren, so würden auch jene seiner Geschwister schwinden.

In den Nächten im Spindelturm versuchte er, die Vergangenheit festzuhalten, die Erinnerung zu packen, doch seinen Tränen gleich rannen sie durch seine Finger davon.

Die Tage ließen sich letztlich leichter ertragen, obwohl sie sich zäh dahinzogen. Er hatte des Grafen Bitte erfüllt, hatte den Brief an Ariad geschrieben, und war dafür belohnt worden, indem man ihn aus dem oberen Turmzimmer in das untere hatte umziehen lassen. Ausharren musste er dort jedoch nicht weniger als zuvor. Er wartete, dass etwas geschah, ohne zu wissen, was es sein mochte. War es ein Ereignis, das sein Schicksal bestimmen sollte oder eine Entscheidung? Was ging vor jenseits der Mauern der Spyndille? Die Außenwelt war so nah und hätte doch ferner nicht sein können.

Die Adligen des Nordens nannten Godfrey Hantigar den ›alten Fisch‹ – wegen des Hechts in seinem Wappen. Marcius indes hatte ihn nie so bezeichnet und auch Medard Vercelle hatte Julius nie so spotten gehört. War der Graf aber nicht vielleicht genau das? Ein glitschiges Wesen, das nicht zu fassen war? Ein Aal viel mehr als ein Hecht. Er hatte Almar den Weg geebnet bis in den Thronsaal Lirells hinein. Er war am Ziel. Und nun warf er ihm Steine in den Weg – und Briefe.

Aus Bögen Papier, die der Graf auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte, faltete Julius Tiere – oder versuchte es zumindest. Es war lange her, seit er in Kindertagen gerne gebastelt hatte. Er entsann sich nicht mehr all der richtigen Kniffe und Griffe, und wenn ihm doch eine Figur gelang, so zerlegte er sie wieder, damit niemand sie sah.

Tinte oder Feder hatte der Graf ihm nicht gelassen. Was indes sollte er auch schreiben? Oder an wen?

Als er sich am Papier schnitt, war die Wunde winzig. Kaum ein Tropfen quoll hervor, doch das bisschen Rot tupfte er auf eines der Blätter. Es war nicht einmal genug, dass er seine Initialen hätte malen können.

Er fuhr zusammen, als die Tür aufgeworfen wurde. Julius wich zurück, stieß mit dem Hinterkopf an die Tischkante, packte danach, zog sich daran hoch. Für einen Moment hielt er den Eindringling im Wappenrock für einen Soldaten. Obwohl aber der lederne Kinnriemen des Helmes einen Teil des Gesichtes verdeckte, war eine Narbe an der Oberlippe zu sehen, und er erkannte den Mann als einen der Ritter des Grafen.

Der öffnete den Riemen, riss sich die Kopfbedeckung vom Haupt und warf sie dem Prinzen zu, der sie, überrascht und ungelenk, nur einen Hauch über dem Boden auffing. Als Julius sich aufrichtete, hatte sich der andere bereits halb aus dem Wappenrock befreit.

»Anziehen!«, bellte er. Dann legte er auch das Wams ab, unter dem ein Zweites zum Vorschein kam. Die ausgezogenen Kleidungsstücke schleuderte er allesamt dem Jungen vor die Füße.

Julius indes regte sich nicht. Schwer war der Helm in seinen Händen. Draußen musste es kühl sein, denn das Metall war kalt an seiner Haut. Noch stand der Kriegsschild am morgendlichen Himmel, sodass die Höfe der Burg größtenteils von Schatten beherrscht würden. Was aber tat sich in ihnen, abgesehen von Rittern, die sich als Soldaten verkleideten und eine zweite Lage Kleider trugen? War eingetreten, worauf Godfrey Hantigar gewartet hatte? War es geschehen, was auch immer es sein mochte?

Julius' Gedanken sprudelten an ihm vorbei, ohne dass er sie fassen konnte.

»Zieht Euch an und folgt mir!«, zischte der Ritter.


Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt