32 - Das Kind der Hexe

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Es musste dort oben einen Luftzug geben, denn einige der Kerzen schienen unentwegt zu zappeln, während andere stets still blieben. Standen vielleicht die Reglosen in windgeschützten Nischen? Oder schützte sie der Nachtwanderer mit der Hand? Ihre Mutter hätte es vielleicht gewusst.

Die meisten Flämmchen waren weiß bis silbrig blau, ganz unähnlich denen, die Menschen entzündeten. Aber es gab auch immer ein paar Goldene darunter, die denen des Alltags näher kamen.

War der Himmel klar und man blickte lange hinauf, ohne dass anderer Lichtschein störte, dann gewahrte man allmählich immer mehr Kerzen – jene, die blasser waren und sich daher in den schwarzen Leeren des Firmaments leicht übersehen ließen.

Einst hatte die Mutter der Welt drei Söhne geboren – so stand es in den Büchern von Silber und Gold; so hatten es die Ammen erzählt und so berichteten es die Priester und Erzieher.

Untereinander sollten diese Drei die Herrschaft über alles gerecht aufteilen: Über das Leben und das Sterben, über Glück und Unglück, über Mensch und Tier, Land und Meer, Licht und Finsternis. Einer der Drei aber – der Jüngste – verlangte stets mehr als den ihm zugesprochenen Anteil. Und so begann er einen Streit mit seinen Brüdern, der viele Jahrtausende anhielt, die Welt in Dunkelheit hüllte und beinahe alles Dasein auslöschte. Schließlich jedoch gelang es den beiden Älteren – der Eine ein mächtiger Krieger, der Andere ein besonnener Weiser – den Dritten zu besiegen, und sie jagten ihn durch die Lande der Lebenden und durch die der Toten. Aber als sie ihn letztlich stellten und zum endgültigen Schlag ausholen wollten, da flehte die Mutter sie an, ihren Sohn zu verschonen, denn die Welt konnte nicht sein ohne die Dreisamkeit der Brüder. Also verbannten sie ihn bloß in die Schatten düsterer Tage und in die schemenhaften Formen, die nur im Zwielicht zu erahnen sind. Sie mussten ihm erlauben, die Nacht ihr Werk tun zu lassen, da Mensch und Tier schlafen müssen, doch sie beschlossen, dass fortan der Nachtwanderer Lichter in die Finsternis hinge. So würde er die Lebenden auch in der Dunkelheit führen, und gewiss sein, dass keine Seele verloren ward in den Schrecken, die hinter der Schwärze lauerten. Den Winter mussten sie dem Dritten ebenfalls gestatten, damit sich Wasser und Pflanzen erholten. Aber der Kriegsschild würde des jüngsten Bruders Arbeiten aus Eis und Schnee immer aufs Neue zerstören, und bei Nacht würde das Licht der Laterne auf dem weißen Kleid, das der Besiegte auslegte, noch heller erstrahlen.

So verdrängten Lichtkrieger und Nachtwanderer den Dritten, und die Menschen sollten dennoch stets – so wollte es der Glaube – seinen Zorn und seine Heimtücke fürchten. Neidisch strebte er danach, die älteren Brüder zu stürzen und die Welt sein Eigen zu machen, und im Verborgenen, in der Dunkelheit und der Wildnis schmiedete er fortwährend Pläne.

Kinder fürchteten sich vor der Finsternis, weil die Erwachsenen ihnen schreckliche Geschichten darüber erzählten, was geschah, wenn man nicht schlief, sobald die Eltern einen ins Bett schickten. Nie wurden die Alten müde, zu berichten, dass im Auftrag des Dritten draußen furchtbare Geschöpfe wandelten, die den Leib auffraßen und die Seele stahlen. Angst sollte verhindern, dass die Kinder zu weit oder allein hinausgingen, oder zu lange fortblieben.

Ihre Mutter aber hatte nicht an die Götter oder die Lehren von Silber und Gold geglaubt. Sie hatte gesagt, dass es dergleichen Kreaturen nicht gab und dass die Lichtlosigkeit und der Tod ein Teil des großen Ganzen waren – des Lebens, des Daseins, des Seins. In den Armen ihrer Mutter liegend hatte Wivine manches mal nach den Gräuel und Belehrungen des Glaubens von Angloras gefragt, doch dieses Thema hatten sie stets schnell hinter sich gelassen. Stattdessen hatte Lidia Bilder heraufbeschworen von Ländern und Landschaften, die unter derselben Laterne und demselben Kriegsschild lagen, und doch völlig fremd und wundersam waren. Sie bestanden aus Sand, so weit das Auge reichte und formten sich jeden Tag zu neuen Kämmen und Tälern; andere waren von Bäumen bewachsen, die so hoch hinauf reichten, dass sie die Wolken durchbrachen. In diesen fremden Landen wuchsen Gewürze, die die Sinne betörten, die einen Lieder in den Flammen hören ließen, oder lesen machten, was ein Schmetterling mit seinem Flug beschreiben wollte. Ihre Mutter hatte Fische gesehen, die ertrinken konnten, und Menschen, die wie die Fische schwammen und tauchten. Ihre Füße hatten Steine berührt, die auf der anderen Seite der Welt lagen. Mit ihrem Haar hatten Winde gespielt, die über nicht enden wollendes Eis und durch düstere Urwälder gezogen und unter Wasserfällen hindurchgehuscht waren, in denen sich ganze Ozeane ergossen.

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt