14 - Ein ganz kleiner Diebstahl

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Sie setzte den Fuß auf ein Ende des Seils, packte das andere mit beiden Händen und zerrte mit aller Kraft daran, bis es in ihren Händen brannte. Sie wollte sichergehen, dass der Knoten so fest saß, wie irgendmöglich. Als sie aber nach Orell schaute, den sie mit auf den Wehrgang genommen hatte, damit er ihr half, da starrte er wieder quer über den Hof und auf den gewaltigen Klotz von Donjon.

»Was nun?«, blaffte sie ihn an. Es war ein wenig Wind aufgekommen. Die Wolken jagten schnell über den Himmel, doch bisher waren nicht mehr als ein paar vereinzelte, schwere Regentropfen gefallen. Orell wischte sich einen Neuen von der Glatze und der breiten, roten Narbe, die einen Teil seines Schädels entstellte.

Jetzt eilte er sich, den Knoten auf seiner Seite zu binden, aber Clemendine prüfte ihn dennoch. Sie wollte nicht, dass die Decke sich löste und hinabfiel, denn dann würde sie eine Weitere holen müssen und Liosendis hatte sich schon über diesen Missbrauch beschwert.

»Du sagst, es kommen vielleicht zweihundert Mann, die ich unterbringen soll, aber dann gehst du und nimmst die Decken, die sie warmhalten würden?«

Freilich hatte Cle über diesen unsinnigen Vorwurf gelacht. Als ob es Lio interessiert, wenn meine Männer frieren. Immerhin hat sie ja das ganze gute Bettzeug aus dem Gasthaus entfernen lassen, damit wir es nicht schmutzig machen, ehe sie uns reingelassen hat!

Aber sie hatte sich den Streit gespart und der Schwester lediglich erklärt, dass sie die Decke benötigte, um dem Teil ihrer Armee, der sich noch draußen im Felde befand, ein Zeichen zu geben.

Nun band sie die beiden Seile an die schweren Balken des Geländers und prüfte auch diese Knoten genau.

»Gut. Schmeiß sie drüber«, forderte sie schließlich Orell auf, aber der starrte abermals den Turm an. »Orell!«

»Äh, Verzeihung!«, murmelte er. Er packte die Decke – Clemendine hatte die Größte genommen, die sie hatte finden können, und die Schwerste, damit sie im Wind nicht hin und her flatterte – und warf sie über die Brüstung der westlichen Mauer. Dabei gab er indes Acht, dem Donjon nicht gänzlich den Rücken zuzukehren.

Clemendine erinnerte sich an Dalvins Warnung, was den Aberglauben der Männer anging, aber beschloss, dass es das Beste war, das Ganze zu ignorieren. Sie würden schon sehen, dass es nichts zu fürchten gab in der Manderburg. Es war einfach nur eine alte Burg und hatte ihre Märchen, wie so viele andere Orte auch. Die meisten Geschichten aber besagten, wie sicher es hier war und wie oft die Festung den Menschen die Leben gerettet hatte.

»Warum machst du das?«, holte sie eine kindliche Stimme aus den Gedanken. Wivine stand auf dem Wehrgang, nur wenige Schritte weit fort. Sie hatte den Nacken gereckt und versuchte, über die Brustwehr zu schauen, aber sie war zu klein. An dieser Stelle hätte sie zwischen zwei der Zinnen klettern müssen, um die Decke sehen zu können, die nun schwer an den Seilen hing.

Orell machte ein erschrockenes Geräusch und Clemendine lachte wie zum Ausgleich auf. »Wir verstecken die Burg hinter Decken, damit unsere Feinde sie nicht finden.«

Wivine kräuselte die Nase. Sie war gekleidet in einen schwarzen, alten Mantel und trug ein dickes Buch unter dem Arm, dessen Einband Cle kannte – was darin stand, daran erinnerte sie sich indes nicht mehr.

»Ich bin nicht vier!«, erwiderte Wivine. Für einen Moment funkelte sie die ältere Schwester an, ein Ausdruck, den Clemendine einzig niedlich fand. Dann aber sah das Mädchen zu Orell hinüber. Ihre dunklen Augen wurden weit. Als Cle sich umschaute, starrte der Mann das Kind mit offenem Mund an. Er war so blass, dass die alte Narbe auf seinem Kopf leuchtete, als hätte sie aufs Neue zu bluten begonnen.

Wivine drehte sich auf der Stelle und rannte davon – ein schwarzer Fleck, der die vielen Treppen der Wehrgänge hinabflog.

»Sie ist ein kleines Kind, Orell! Jetzt hast du sie erschreckt, weil du so hässlich bist«, rief Clemendine aus. Sie klopfte ihm auf die Schulter, überschwenglich und fröhlich, aber dass ihre Stimme dabei seltsam krächzend klang, entging ihr nicht.

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt