26 - Die Leichentücher der Zeit

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Wulfrey Hantigar hatte ein gutes Händchen darin, Zweifel und Zwietracht zu säen – das zumindest musste man ihm lassen. Noch ehe sein Heerlager eines Morgens so plötzlich den Ausblick verschandelte, hatte er den Streit zwischen Liosendis und Clemendine aufs Neue entfacht.

Auf dem Rückweg von den Mühlen hatte Cle ihr Pferd neben das der Schwester ziehen lassen und sie angefahren: »Was bei beiden Göttern war das für eine Vorstellung? Warum hast du dich nicht noch verneigt und bedankt?«

Die Ältere hatte sich auf dem Rücken ihres Rosses von der anderen fortgelehnt und sie mit gekräuselten Augenbrauen gemustert. Sie hatte einen Moment benötigt, um zu antworten, und Cle hatte beinahe wieder Luft geschnappt, um die nächste Tirade loszulassen, als Liosendis endlich sprach: »Was hast du erwartet? Das ich ihn anschreie?«

»Ich habe erwartet, dass du dich nicht wie ein Lämmchen aufführt, das sich noch ans Bein des Schlachters schmiegt. Und dass du nicht vergisst, dass du ohne mich und meine Armee vollkommen hilflos bist.«

»Ich ... was? Was hätte ich tun sollen?«

Clemendine stöhnte lauthals auf in ihrem Zorn. »Du hättest damit anfangen können, mich nicht zu behandeln, als wäre ich deine rechte Satteltasche. Oder dein Bannerträger oder ein Knappe. Du hast mich doch als deine Generälin bezeichnet. Warum erwähnst du mich dann, als wäre ich rein zufällig an deiner Seite mit hinausgeritten?«

Liosendis schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Sie war zusehends blasser geworden, seitdem sie den Grafensohn verlassen hatten.

»Ich habe dich vorgestellt-«

»Du hast ihm meinen Namen gesagt, ja. Lio, bist du wirklich so dumm? Die sind hier, um uns umzubringen. Nicht, um sich mit uns zu unterhalten. Er hat uns gedroht und alles, was du getan hast, war ihn über irgendwelche rechtlichen Spitzfindigkeiten zu belehren, die ihn eh nicht interessieren. Er wird uns die Burg unter den Füßen wegsprengen, ehe er sie uns lässt. Den beeindrucken keine Gesetze und Ahnen. Solchen Leuten muss man mit Feuer begegnen. Man muss ihnen klarmachen, gegen wen sie stehen. Man muss sie bekämpfen, und nicht erst, wenn die Schwerter gezückt sind. Man muss ihnen klarmachen, was ihnen blüht, wenn wir sie in die Finger bekommen.«

In ihrem Zorn war Clemendine immer lauter geworden, bis sich ihre Stimme am Ende überschlug. Liosendis aber wandte sich bloß noch ärger von der Schwester ab, als wollte sie sie aus ihrer Aussicht verbannen. »Bist du etwa gekränkt, weil ich deine Armee und dich nicht als meine große Streitmacht gelobt habe? Bist du eingeschnappt, weil ich unserem Feind nicht gesagt habe, dass ihr ihre Leichen von den Zinnen hängen werdet?«

Wieder schüttelte sie den Kopf, heftig diesmal, und ihr helles Haar wehte um ihr Haupt wie ein Seidentuch im Wind.

Um jede Elle, die Liosendis ausgewichen war, drängte Clemendine nun vor. »Wäre ich wirklich gekränkt, dann solltest du dich ganz arg sorgen, liebe Lio, denn immerhin möchtest du, dass meine Armee dich beschützt, damit du weiterhin deinen knochigen Hintern auf dem Sessel unseres Vaters ausruhen kannst. Ich und mein Heer sind deine einzige Hoffnung, dass du behältst, wofür du nichts getan hast, außer als erste aus deiner Mutter zu kriechen und ein paar Wagenladungen Getreide hin und her zu verfrachten.«

Da hatte die Ältere an den Zügeln gezogen. Ihr Pferd trat kurz auf der Stelle und blieb dann stehen. Sie starrte die Jüngere an und ihre hellen Augen waren eng und kalt. »Heerführer sind doch wohl über solche Kränkungen erhaben! Heerführer wissen, was Hierarchie und Diplomatie sind. Sie wissen, wie man sich bei einem Treffen unter einer weißen Flagge verhält und wie man einander begegnet, ohne die eigene Würde zu verlieren oder die des anderen zu verletzen. Alles, was du kannst, ist, mit einem Schwert um dich schlagen und dich im Dreck prügeln. Das kann jeder niederste Soldat und Halunke – Männer, die niemals Herzog werden. Ein Herzog, ein wahrer Herr und Anführer, tut dergleichen nicht!«

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt