Zögerlich nahm der Junge Platz, doch weder rutschte er mit dem Stuhl an den Tisch heran, noch lehnte er sich zurück. Wie die Schmetterlinge, die Godfrey als Kind durch die Gärten von Atton gejagt und nie gefangen hatte, blieb er flüchtig. Allzeit bereit, sich davonzumachen. Aber wohin wollte er flattern?
Der Graf trat näher, um Wein einzuschenken und den Kelch zu überreichen. In Antwort jedoch erhielt er bloß ein knappes Kopfschütteln. Die blauen Augen des Prinzen hafteten an den bereitliegenden Utensilien, sein Atmen war so langsam und flach, dass man lediglich die sachte Regung des Brustkorbs erahnen konnte. Staub und Dreck hatten dünne Schemen auf das Gesicht des Knaben gezeichnet, darunter jedoch schimmerte seine blasse Haut. Sein kurzes Haar, obgleich filzig und zerzaust, strahlte golden. Er glich einer Geistererscheinung, schien kaum hier. Doch seine Hände suchten Halt an den Armlehnen, seine Fingernägel waren dunkel unterlegt, die Lippen spröde und aufgesprungen, und ein vager Geruch getrockneten Schweißes ging von ihm aus. Blaue Flecken zeigten noch jetzt, wo Godfrey ihn am Hals gepackt hatte. Die Geschehnisse jenes Tages waren bereits düstere Vorgeschichte für den alten Fisch. Zu viel Arbeit lag dazwischen, zu wenig Schlaf. Die Wunde auf der Wange des Prinzen war rot verkrustet und zu einem breiten, beinahe waagerechten Streif entlang des Wangenknochens geworden. Ringsherum war die Haut noch immer verfärbt und leicht geschwollen, doch weitaus geringer als Tage zuvor.
»Bitte: Esst. Trinkt. Es ist alles für Euch«, empfahl Godfrey.
Julius besah sich den in Würfel geschnittenen Käse, die Trauben, den Weinkelch – und schüttelte wieder den Kopf.
»Nein, danke«, antwortete er. Seine Stimme war leise, aber wankte nicht. Nach einem Moment schaute er auf und den Grafen an. Obwohl sich der Griff seiner Finger um die Armlehnen nicht lockerte, obwohl er noch immer erschien, als wolle er sogleich flüchten, stand keine Furcht in diesem Blick. Seine Augen hatten die Farbe der hohen See, waren klar, weit und wach und dennoch unergründlich, und Godfrey fragte sich, ob vielleicht jeder Ausdruck von Angst und Unsicherheit darin versank wie ein Ertrunkener in den Wellen des Ozeans. Wenn sich überhaupt irgendetwas von der Miene des Knaben ablesen ließ, so war es wohl eine bisher ungestellte Frage, die vorherzusehen sich der Graf zu seiner eigenen Überraschung nicht befähigt fühlte. Der Junge betrachtete ihn für lange Augenblicke – und nichts, was er sah oder entdeckte, führte zu einer Reaktion auf seinen jugendlichen Zügen.
»Nun, wie Ihr wünscht«, entgegnete der Graf von Atton schließlich. Er bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. »Ich möchte Euch gerne anbieten, hier unten zu bleiben. Es ist wärmer und sauberer. Allerdings benötige ich dafür Eure Hilfe.«
Julius musterte ihn weiter unverwandt, doch antwortete nicht, daher fuhr Godfrey fort: »Leider hat es sich nicht herumgesprochen, dass Ihr entfliehen konntet. Diesen Umstand müssen wir ändern. Ihr und ich, Hand in Hand.«
»Ich bin nicht geflohen«, fiel der Knabe ein, ohne Trotz, völlig sachlich.
Den Einspruch musste Godfrey ihm zugestehen. »Nein, das seid Ihr nicht. Aber es ist von höchster Wichtigkeit, dass sich das Wissen um Euer Überleben verbreitet. Derzeit schickt sich Euer Vetter an, sich auf den Thron setzen zu lassen. Zudem möchte er eine Parade abhalten, zur Feier seiner neuen Herrschaft – noch ehe ihn die Priester überhaupt zum König erklärt haben. Die soll er gerne bekommen, aber wir – Ihr und ich – werden sie ihm verhageln. Denn seht: Ich möchte nicht, dass Almars sehnlichster Wunsch in Erfüllung geht. Und Ihr wollt das auch nicht.«
Julius reagierte weiterhin nicht, seine Augen blieben ausdruckslos, und plötzlich fragte sich der Graf, ob der Junge eventuell einfältig war. War das, was Godfrey bisher für eine äußerst irritierende Gefasstheit und Ruhe gehalten hatte, in Wahrheit die Arroganz oder Gelassenheit des Stumpfsinnigen? Hatte der Bursche die vorgebrachten Ausführungen überhaupt verstanden? Hatte das angenehme Leben als Prinz ihm einen simplen Geist beschert? Der alte Fisch gab sich dem Nachsinnen über diese Möglichkeit nur für einen Wimpernschlag hin – er würde ein zu leichtes Spiel haben und nichts war je so einfach.
DU LIEST GERADE
Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...