12 - Feinde

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Der ferne Klang eines Horns stahl sich in die düstere Halle. Der Hand eines Kindes gleich, welches sich hereingeschlichen hatte, zupfte der Laut an ihr, und ward augenblicklich zur Klinge, die den Faden ihrer Gedanken zerschnitt. Das wankende, überschattende Bauwerk aus Fragen, Zweifeln und Abwägungen, das sie in den vergangenen Tagen über sich aufgetürmt hatte, stürzte in sich zusammen.

Jemand kam!

Es spielt auch schon keine Rolle mehr, wer, versicherte sie sich. Das Warten hat ein Ende und ich bin es längst leid.

Mornell war von seinem Erkundungsritt nach zwei Tagen zurückgekehrt, staubig, dreckig und stinkend – und mit leeren Händen. Er hatte die Schultern an die Ohren gezogen und an Liosendis vorbei auf eine Schale Mandarinen gestarrt. »Wir sind bis ins kleine Gebirge geritten, bis an den Grauwald und weit Richtung Osten und Norden, aber wir haben nirgendwo wen gesehen. Vielleicht ist es nur eine Handvoll Männer. Oder sie kamen her, haben das Pferd losgeschickt und sind gleich wieder abgehau'n.«

Liosendis hatte ihn fortgewunken und eine lange Zeit auf die Karte des Umlands gestarrt, die im Schreibzimmer ihres Vaters an der Wand hing.

Nein, hatte sie erst nach einer Weile gedacht, jetzt ist es mein Schreibzimmer. Es war ein seltsamer Gedanke. Ein schrecklicher. Sie hatte nach ihrer eigenen Schulter getastet, aber ihre Hand war kalt und ihre Finger so viel schmaler und kleiner als die ihres Vaters.

Nun endlich kam jemand – entweder war es Clemendine, gefolgt von ihrer Armee, oder es waren Godfrey oder Wulfrey Hantigar. Waren es Letztere und hatte Cle somit den einen Moment, da ihre Armee tatsächlich benötigt wurde, verspielt, wäre es doch nur der abschließende Beweis, dass Frauen keine Truppen zu führen vermochten. Ein widerlicher Klumpen in den verborgensten Kammern von Liosendis' Inneren wünschte sich durchaus, ihrer Schwester würde diese Schmach zuteilwerden. Doch sie verabscheute diesen Klumpen. Hätte sie gekonnt, sie hätte ihn hochgewürgt und ins Feuer gespuckt. Aber sie wusste nicht, wie. Dieser Klumpen war schon so lange ein Teil von ihr und Clemendine selbst hatte ihn dort aufkeimen lassen.

Gleichwohl: sie benötigte Cle – mehr, als sie es je für möglich gehalten hatte. Sie benötigte ihre Schwester und deren Heer hier in der Manderburg und nicht irgendwo in den Wäldern auf der Lauer. Darüber zu bestimmen, das lag allerdings nicht in ihren Händen. Alles, was in ihrer Macht gestanden hatte, hatte sie vollbracht! Sie hatte Feuerholz und Stroh aufstocken lassen und alles an Vieh im Umland in die Festung treiben lassen; hatte die Waffen und Rüstungen zusammensuchen und reparieren lassen; alle Flaggen waren aufgezogen worden; die Pferde wurden Tag für Tag gesattelt und ausstaffiert; die alten Männer der Burgwache hatten ihre Wappenröcke angelegt und einige Knaben aus dem Dorf hatte man ebenfalls in Rüstungen gesteckt, obwohl diese den Kindern zu groß waren und Wibert sich darüber beschwert hatte.

»Was soll ich mit den Knaben? Was soll ich mit Kindern anstellen?«, hatte er gewettert.

»Aus der Ferne wird niemand sehen, dass es Kinder sind. Sie werden aussehen wie alle anderen Wachposten und man wird uns für nicht ganz so wehrlos halten, wie wir es am Ende sind«, hatte Lio ihm erklärt, indessen Wibert ihr über die Wehrgänge folgte, trampelnd, um seinen Missmut kundzutun.

Erneut erschallte das Horn. Matthus platzte in die Halle, ein Knabe von dreizehn, der ihrem Vater als Page gedient hatte.

»Herrin! Das Horn! Jemand kommt!«, rief er aus, das Gesicht hochrot. Er war etwas dicklich, aber flink.

»Ich habe es gehört«, antwortete Liosendis und erhob sich. Als sie die Stufen vom Donjon hinabschritt, legte sie sich ihren besten Umhang um die Schultern. Er war aus dunkelgrünem Seidenbrokat gefertigt, dessen Goldfäden im Licht des Kriegsschildes glommen. Mittig war in feinsten Stichen und großem Detail der Hirsch der Vercelles aufgebracht und sein Geweih aus Zweigen war ganz und gar in Gold gefasst. Die Manderburg war vorbereitet, so gering ihre Mittel derzeit waren, und Liosendis war es ebenso.

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt