Almar kam zu ihr. Sie musste mit ihm sprechen!
Er war ihr Bruder! Sie würde ihn um Gnade bitten – um Erbarmen – um das Leben der königlichen Familie. Sie würde ihn anflehen. Als er nun indes eintrat, in Begleitung eines Ritters, den sie nur als schillernden Flecken ausmachen konnte, da lag sie weinend und kaum bei Sinnen in Darias Armen.
»Schwester«, sprach er tonlos. Dort stand er und blickte auf sie hinab. War sein Haar lichter geworden? Sie war unsicher. Formen verschwammen und entschwanden ihr. Sie hatte ihn kräftiger in Erinnerung. Dieser Almar war hager, älter als seine Jahre, verschwitzt und außer Atem. Die Farben der Kleider an seinem Leib flossen ineinander und helle Punkte schimmerten auf seinem Haupt.
Sie vermochte seinen Namen nur zu flüstern. Daria wiegte sie sanft. Eine Träne des Mädchens fiel eiskalt auf Jannas Stirn.
»Es ist ein Junge«, wisperte sie. Almar fuhr zusammen. Er sah sich um, als erwarte er einen Angriff aus dem Hinterhalt. Bereute er nun, dass er eben mit bellender Stimme seinen übrigen Rittern befohlen hatte, im Flur zu warten?
»Er hat nicht gelebt«, sagte Daria. Das Mädchen nahm die Hand, die Jannas Haar gestreichelt hatte, um sich die Tränen fortzuwischen.
Schwerfällig hob Janna den Kopf. »Bitte lass meine Damen gehen«, bat sie. Daria half ihr, sich auf die Kissen des Bettes zu lehnen. Der Prinzessin schönes Kleid war völlig in Blut getränkt. Mit zittrigen Fingern tunkte das Mädchen ein frisches Tuch in Wasser und strich Janna die Haare aus der schweißnassen Stirn.
Almar drehte sich um nach Obeth, der noch in der Tür stand, unschlüssig, was zu tun war, was seine Rolle sein sollte. Er war nur halb so groß wie Sir Samon, der neben ihm aufragte. »Nimm die mit«, befahl ihr Bruder. Sein Ton war scharf. Er zeigte auf die drei Zofen, die wankend aneinander festhielten, ihre Kleider und Hände mit kreischenden Spritzern Röte bedeckt. Der Reichskanzler winkte ihnen zu, doch Janna konnte nur die Geste des Armhebens sehen. Das Winken war zu schnell für ihren müden Geist.
Sie nahm Darias Hände und küsste sie. »Geh«, flüsterte sie. Des Mädchens Augen waren geweitet und rot unterlaufen. Tränen kullerten ihr über die Wangen. Schon waren die drei Frauen nach draußen gehuscht, als Daria sich löste, doch Almar vertrat ihr den Weg.
»Wir sprachen von deinen Damen«, sagte er in einer Weise, die Janna trotz der Hitze erschaudern ließ. Er hatte einen Finger gehoben. »Meine liebe Base muss bleiben«, fügte er hinzu, und an Obeth gewandt. »Geht! Schließt die Tür!«
Der Alte verharrte, bis Almar herumwirbelte und ihn anschrie: »Geht!«
Heftig fuhr der Reichskanzler zusammen. Er verneigte sich, zog den Türflügel hinter sich zu und war fort.
Daria stand neben dem Bett. Sie strich sich mit den Händen über das Kleid, ohne das Blut zu bemerken. Almar indes schritt hinüber zu der mit Schnitzereien und einer Auflage aus Marmor verzierten Kommode, auf die sie das Kind gebettet hatten, in einem sauberen, feinen Tuch. Janna spürte ihr Herz bis in ihre Kehle schlagen. Sie fixierte den Hinterkopf ihres Bruders, den sie durch ihren verschwommenen Blick nur ungenau ausmachen konnte, und versuchte, sich in ihn hineinzudenken. Ihr Verstand schmerzte unerträglich.
Vorsichtig schlug er das Tuch auf, so als habe er Angst, dass der Inhalt nach seinen Fingern schnappte. Eine Weile betrachtete er das Kind, nahm es sogar in den Arm, wiegte es. Er wandte sich um und kam einige Schritte heran. Janna gewahrte sein langsames Kopfschütteln, und wie sich Falten in seine Stirn gruben.
»Was bringt es, Sohn eines toten Königs zu sein?«, sprach er zu sich. Daria legte die Arme um ihren Leib, wie zum Schutze vor beißender Kälte. Jäh machte Almar kehrt, ging zum Feuer und warf das Kind hinein.
Janna kreischte. Sie bäumte sich auf, gegen die Decken und Kissen, noch viel mehr aber gegen den Schmerz, den Schwindel, die Schwäche in ihr. Ihre Adern füllten sich mit Entsetzen und Hass. Sie musste zum Kamin und ihr Kind retten! Dann würde sie Almar packen und ihn in die Flammen stoßen. Auch sein Ritter würde sie nicht aufhalten können. Welche Rolle spielte es, dass das Kind tot war?! Es war ihres! Es war Marcius' Sohn!
Sie jagte unter der schweren Decke hervor, heraus aus dem Bett, bloß um der Länge nach auf den Boden zu schlagen. Daria schrie auf. Sie stürzte heran, um Janna aufzufangen, doch kam zu spät. Nun blieb ihr nichts, als sich zu ihr zu knien. Sie zog die Geschwächte auf ihren Schoß.
»Janna, liebe Janna«, wisperte sie und ihre Augen wurden weit. Wieder öffnete Daria den Mund, doch anstelle von Worten spritzte Blut hervor.
Über ihre Lippen, aus ihrer Kehle.
Almar stand hinter ihr. Janna sah die Edelsteine im Griff des Dolches blitzen. Die Waffe war ein Geschenk ihrer Mutter. Sie schrie. Und dann schwieg sie.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...