10 - Spuren am Wegesrand

27 3 0
                                    

Zerklüftet und überwuchert von Moos bildete der wagenradbreite Stamm einer uralten Kastanie den Mittelpunkt einer Weggabelung. Vor ihr teilte sich der Pfad, führte in die eine Richtung nach Osten – gen Taffet und die Thorne –, in die andere weiter nach Westen, um irgendwann auf die Reichsstraße zu treffen. Efeu und Gräser verbargen unter sich die kräftigen Wurzeln und hatten längst begonnen, auch den Stamm emporzuklettern. Obwohl die Krone, die die meisten übrigen Bäume überragte, kahl war, trug sie so viele Äste und Zweige und Zweiglein, dass der blaue Himmel darüber kaum hindurchschien.

Das Licht fiel stattdessen durch die schmalen Schneisen ein, die sich im Herbst über den Pfaden auftaten und im Frühjahr allmählich vom neuen Laub geschlossen wurden, und ließ die Scherben aus Glas schimmern. Schon aus der Ferne hatte Wulfrey die Spiegelung – das grelle Aufblitzen – gesehen und gewusst, was sie erwartete: Drei seltsame Blätter waren mit Tauen an die schwersten Äste gehängt – zwei so tief, dass Tiere das Fleisch von den Beinen gefressen und die sich lösenden Knochen fortgeschleppt hatten. Innereien waren quer über die Lichtung in die Büsche geschleift worden, schwarze Spuren hinterlassend. Das Unkraut unter den aufgeplatzten, verfärbten Leibern war zertreten und zerwühlt, das Gras dunkel und abgestorben.

Keiner der Männer hatte mehr ein Gesicht. Schädelknochen schimmerten hervor, wo Vögel und Insekten das Fleisch abgenagt hatten oder die Haut wie altes Leder herabhing. Boshaft grinsten zerfallene Gebisse unter leeren Augenhöhlen. Wie schwere Glocken wiegten sich die Toten träge hin und her, und die Bruchstücke aus Glas und Horn und Zinn, die ihnen an Schnüren über die Schultern gelegt waren, klirrten dann und wann leise.

»Wer tut so etwas?«, fragte einer der Knappen, ein Knabe von erst dreizehn, der bisher einzig im Schutze des großen Heeres durchs Reich gereist war. Seine Worte waren atemlos und kaum hatte er ausgesprochen, rang er gegen ein Würgen an.

Wulfrey antwortete ihm fast beiläufig: »Die Armee der Zerbrochenen. Diese Scherbenketten sind ihr Zeichen. Sie lassen sie an jeder armen Seele, die sie aufknüpfen.«

»Wer ... wer ist die Armee der Zerbrochenen?«

»Mörder und Wegelagerer«, rief einer der Männer und spuckte neben seinem Pferd aus.

»Rebellen gegen den wahren König«, ergänzte Wulfrey. »Sie sind die größte Gruppe von Mördern, die den Norden heimsuchen. Die meisten anderen, kleineren Banden konnten wir irgendwann aufreiben. Aber die Zerbrochenen gibt es immer noch. Sie werden sowohl vom Volk unterstützt als auch von den Vercelles.«

Begegnet war Wulfrey der Armee allerdings nie, hatte sich nie im offenen Kampf mit ihnen messen können. Es schien, dass sie es vorzogen, dem Heer fernzubleiben. Wann immer er ihre Spuren fand, waren sie längst verrottet und verwest. Feige blieben die Männer im Verborgenen, überfielen nur jene, die aufgrund Unachtsamkeit oder Unterzahl unterlegen waren, und versahen die Leichen mit ihren Ketten. Darin, wen sie töteten, unterschieden sie dabei nicht. Wer bewaffnet war und ein Feind zu sein schien, gleichgültig, welchem Herrn er diente, bezahlte dafür mit dem Leben.

So die Gerüchte stimmten, führte Clemendine Vercelle, Tochter des Herzogs der Manderney, diese Meute an, die – so nahm er an – gewiss größtenteils aus Fahnenflüchtigen bestand. Das Volk behauptete, die Zerbrochenen führten Schurken, die die Menschen des Nordens bedrohten, ihrem gerechten Schicksal zu. Doch Wulfrey hatte ihre Gerechtigkeit gesehen. Er hatte die Überreste jener erblickt, die sie in die Bäume gehängt hatten. Manch Unglücklicher hatte die Finger noch zwischen Schlinge und Hals stecken, da man ihn langsam hochgezogen hatte, um ihm den schnellen Tod durch Genickbruch zu verwehren.

Er erwartete, die Armee der Zerbrochenen als Verteidigung der Manderburg vorzufinden, wenn Clemendine Vercelle sie dorthin befahl. Wenn er sie würde töten müssen – jeden einzelnen – es wäre bloß ein Ausgleich, ein Ausbalancieren der Waage.

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt