Sie stand auf den Stufen des Tempels in Mander und wartete auf die Männer, die mit ihr in den Kampf ziehen wollten. Monatelange war sie mit Ronald, dem Jäger der Manderburg, durch die Lande durchzogen, auf der Suche nach allen, die zur Verteidigung der Heimat bereit waren ...
Doch es war nicht Tagmitte, wie es sein sollte. Es war nicht einmal Tag. Ringsherum lag Finsternis – ohne Formen, ohne Konturen. Obgleich Clemendine die Stufen, die hinter ihr zum Tempel hinaufführten, deutlich erkannte, versank der Rest der Stadt in Schwärze. Der Torbogen des Portals war leer.
Aber ich war nicht allein dort! beteuerte sie vor sich selbst. Auch wenn nicht ein einziger gekommen wäre, um mit ihr gegen die Feinde der Manderney zu ziehen, auch wenn Ronald damals schon tot war, ich war nicht allein dort!
Sie sah sich um, spähte in die Nacht hinein, die doch keine war – sondern bloß das Jenseits dessen, was der Traum ihr zeigen wollte. Nun blühte vor den Stufen eine Knospe auf, erst finsterblau wie das frühste Morgengrauen; dann orange wie geschmolzene Bronze. Schließlich sprangen Flammen daraus empor. Ronald stand an dem Lagerfeuer und Clemendine wusste, dass es jenes war, an dem er sein Leben gelassen hatte.
Das warme Goldlicht tanzte auf seinen ihr so sehr vertrauten Zügen, als er lächelte. Er hob eine Hand, die in einem schweren, alten Handschuh steckte.
»Kommt mit mir, Herrin«, sprach er. Seine Stimme war immer schon ein Knurren gewesen, nie aber war diese ihr unfreundlich erschienen. Auch jetzt waren seine Worte, ihr Klang, herzlich und warm.
»Ich kann nicht.« Cle schüttelte den Kopf.
»Doch. Es ist an der Zeit«, erwiderte er. »Ich bringe Euch zu Eurem Vater. Auch die Dame Lidia wartet auf Euch.« Er trat einen Schritt näher – so nah, dass er beinahe ins Feuer geriet. Die Flammen schienen ihn indes nicht zu schrecken.
Warum sollten sie auch? Er ist ja schon tot. Genauso wie mein Vater. Genauso wie Lidia. Deshalb kann er mich zu ihnen bringen.
»Es ist an der Zeit, aufzuhören. Ihr habt genug geleistet. Kommt nun mit mir.«
»Ich kann nicht!«, sie klang wie das kleine Mädchen, das immer lauthals gegen alles Unliebsame angeschrien hatte. »Ich will nicht! Ich bin noch nicht fertig. Ich habe noch mehr Kämpfe auszutragen.«
Darauf wurden seine faltigen, groben Gesichtszüge traurig. »Aber meine liebe Clemendine, der Feind naht!«
»Ha!«, rief sie aus und zog ihr Schwert. »Ich fürchte niemanden! Sollen sie kommen!«
Und sie kamen. Ronald und das Feuer verschwanden, die Stufen des Tempels lösten sich auf. Schon fand sie sich in einer hohen, weiten Halle, umringt von Menschen in Samt und Seide, in Satin und Spitze, in Schmuck aus Gold und Edelsteinen. Almar war dort, Godfrey Hantigar, sein Sohn Wulfrey, die Prinzen aus Lirell und König Marcius; seine Herzöge, Grafen und Ritter, und unzählige edle Damen und Herren. Ihre Mutter war womöglich ebenfalls darunter, und Liosendis'. Ein jeder war fein herausgeputzt, trug erlesene Stoffe und Geschmeide, doch sie alle hatten keine Gesichter. Dennoch war Cle gewiss, wer sie waren, und viele von ihnen würde sie niederstrecken, denn sie waren ihre Feinde! Sie hob das Schwert, aber die Gestalten begannen zu lachen.
»Aufhören!«, keifte Clemendine. Sie spürte das Gewicht der Waffe, den vertrauten Griff, den Geruch von all dem Blut, das daran herabgetropft war. Das Gelächter aber ebbte nicht ab und, als sie endlich einen Angriff führte, da steckte sie selbst in einem seidenen Kleid aus vielen schweren Röcken. Das Mieder schnürte ihr die Brust ein, die Spitze scheuerte sie blutig. »Nein!«, schrie sie und schwang das Schwert durch die Luft. Sie hackte nach den Gestalten, die jetzt nur noch Schatten waren und nicht vor ihr oder der Waffe zurückwichen. Sie lachten, lauter und lauter, und Cle brüllte sie an, drohte ihnen, verfluchte sie, bis ihr die Worte ausgingen, dann der Atem und die Kraft. Schließlich verfing sich ihr Fuß in den Säumen der vielen Röcke. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte hin.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...