»Reißt die Mauern nieder!«, kreischte Almar, so wie es an jedem Tag des Wartens irgendwann unweigerlich geschehen war, indessen die Trommeln um ihn herum dröhnten und seinen Zorn beinahe unhörbar machten. »Reißt die Tore ein! Stürmt die Stadt!«
Und wie an jedem Tag zuvor, rangen ihm seine Berater Geduld ab – was anderes blieb ihm auch? Die Festungsanlagen Lirells würden seiner bloßen Wut nicht weichen, und wann immer er nicht auf Godfrey Hantigar gehört hatte, war er gescheitert.
»Ich bitte Euch, habt noch etwas Beharrlichkeit, mein Prinz. Ihr habt drei Jahre Krieg durchgestanden und ein Leben in der Verbannung. Diese letzten Tage, vielleicht nur Stunden, werden es sein, an die man sich später erinnert. Nicht an die Schlachten oder das Blutvergießen, sondern daran, wie sich die Mauern der Stadt für Euch, ihren wahren König, öffneten.«
»Die Menschen Lirells müssen Euch einlassen, mein Prinz, und das werden sie«, versicherte auch Barus Vogel seinem Herrn und griff damit Worte auf, die der Graf von Atton seit Tagen wiederholte. Der alte Herzog indes wrang dabei die mit Ringen besetzten Finger und verschwand beinahe im Kragen seiner ausladenden Roben, als suche er Deckung vor dem Zorn seines Herrn.
»Wenn wir die Stadt stürmen, dann wird man Euch als Feind wahrnehmen; als Eroberer. Aber das seid Ihr nicht!«, fügte Godfrey hinzu. »Ihr seid ein Befreier, Prinz Almar! Ein Erretter! Die Tore werden sich für Euch öffnen, ohne, dass Ihr mit Gewalt über die Stadt und die Unschuldigen darin herfallt!«
Es war höchste Zeit, dass sie endlich recht erhielten. Just vertröstet, hatte sich Almar an jedem Abend mehr und mehr dem Feiern eines Sieges hingegeben, den er doch noch nicht gänzlich in Händen hielt, und mit jedem Morgen war er in schlechterer Verfassung vor den Truppen erschienen. Heute war sein langes Haar nachlässig gebunden und vom Wind aus den Flechtungen gezupft worden, die es von den Schläfen an nach hinten fassten. Er sah in seinen aufwendigen Gewändern und mit den blutunterlaufenen Augen aus wie ein übel gelaunter Paradiesvogel.
Als mit einem dumpfen Schlag indes endlich die Ketten und Zahnräder arbeiteten und sich Rogers Tor vor ihnen öffnete, da richtete sich Almar auf dem Rücken seines Pferdes auf und zeigte ein Lächeln voll so unbändiger Freude, dass Godfrey fürchtete, es würden bald Tränen des Glücks folgen.
Almar trieb sein Pferd an, Godfrey Hantigar und Barus Vogel folgten ihm, dann die Ritter, dann die Trommler – und zwischen alle dem des Prinzen bunte Pestilenz von Freunden und Unterhaltern, die umhersprangen und sangen.
Es war indes nicht der Einzug eines Befreiers in eine geknechtete Stadt – gleichgültig, wie hoch und heilig Godfrey dies versprochen hatte. Gewiss, man ließ sie ein, um Schlimmeres abzuwenden, doch das bedeutete nicht, dass Almar irgendwem willkommen war. Dennoch war der Prinz nun in Hochstimmung. Er klatschte zum Takt der Trommeln, schüttelte die Hände seiner ihn umspringenden Schar von Trunkenbolden, stimmte ein in ihre Lieder und lachte immer wieder auf, die Arme in die Höhe reißend, als wolle er die gesamte Welt umarmen.
Godfrey hingegen verspürte ein vollkommen anderes Gefühl, als sich der Schatten der Granitmauern über ihn legte. Einen weiten Weg waren sie gekommen, hatten einen Krieg gewonnen, waren beinahe am Ziel. Eine letzte Grausamkeit sollte noch im Wege stehen, und dann würde Almar endlich bekommen, was er begehrte: seinen Thron, seine Krone, sein Königreich.
Aber was ist mit dem, was ich begehre? fragte sich Godfrey und nahm die Zügel fester. Er spürte, wie sich der harte Lederriemen in sein Fleisch presste. Pläne lagen vor seinem geistigen Auge aus, wie Listen geheimer Zeichen, deren Sprache nur er selbst kannte. Der Weg, dem er nachfolgen musste, um die Hoffnungen seines Prinzen zu erfüllen, war ein einfacher, ein knapper: Mord und es würde nur noch ein Zweig bleiben an dem großen Baum, der das Herrscherhaus Helisses war.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...