Siebzehnjährig war der Knabe vor die Herzöge und Grafen des Südens getreten und hatte ihnen die Zukunft unter seiner Herrschaft ausgemalt als das Ende der Knechtschaft. Jedes seiner Worte war gewählt, jede Geste, jede Mimik einstudiert. Damals hatte sich Godfrey gefragt, wie häufig der Prinz seine Rede vor Spiegeln geübt hatte, um andere von seinem Recht auf den Thron überzeugen zu können – und von der Bezwingbarkeit des Nordens. Der Graf von Atton war nicht unter den Ersten gewesen, denen Almar aufgewartet hatte, und nicht unter den Letzten.
Mit Inbrunst hatte der junge Mann geschwärmt von seiner Liebe zu Angloras und dessen Volk. Mit bebender Stimme, mit Glanz in den Augen, hatte er beteuert, dass er sein Blut und sein Leben gäbe, um den Platz einzunehmen, der ihm rechtmäßig gebühre, und der ihm durch ein Komplott, durch den Mord an seinem Vater, durch die Hinterlist unbekannter Intriganten genommen worden war. Er hatte gesprochen von der Ungerechtigkeit, die dem Süden, der Gold schürfte und Salz gewann, mehr Steuern abverlangte als dem Norden, der bloß gute Erde hatte – all dies wegen eines Krieges, der Jahrhunderte zurücklag.
»Wir müssen dieses Land für uns gewinnen und die Knechtschaft beenden. Wir wollen den Sommer bringen, die Freiheit, die Zukunft! Wir wollen Angloras neu erschaffen!«, hatte er ausgerufen und ihm waren die Tränen gekommen. Almar hatte seinen Zuhörern Visionen eines besseren Reiches, eines gerechteren Königs aufgezeichnet in schillernden Farben, gemalt mit einer Tinte, die aus dem uralten Blut der Helisses' gewonnen worden war. Seine Worte, Metaphern und Ausführungen waren Heldensagen entsprungen, den Lehren von Silber und Gold, und den Verheißungen und Erinnerungen seiner Mutter.
Siebzehnjährig war er ein besonnener Bursche gewesen. Einer, der zuhörte, der studierte, der las und in Landkarten versank, der Zahlen nicht hinnahm, sondern nachverfolgte. Er hatte Godfrey Fragen über Fragen gestellt, hatte alles wissen wollen. Er hatte das Papier von Schriftstücken und Marschrouten betastet, als hoffte er, Geheimnisse zu finden, die dem Blicke verborgen blieben. Er hatte alles erfahren und verstehen wollen.
Und anfänglich hatte sich Godfrey mitreißen lassen, von Almar Helisses' Bestreben. Der Knabe war der Stiefsohn des Reiches, verstoßen von seinem Thron, verdrängt in den Süden, der auch immer das Stiefkind von Angloras war. Dreihundert Jahre war es her, da war der Norden herabgekommen und hatte die Landesteile vereint, doch stets hatten die Könige in Lirell die südlichen Gebiete geschröpft. Noch heute waren die Menschen miteinander nicht im Reinen. Argwohn stand zwischen ihnen wie die Höhenzüge des kleinen Gebirges, die das Land teilten.
»Gerechtigkeit«, war es, von der Almar immer wieder sprach und die er verlangte. Gerechtigkeit für sich selbst, für seine Mutter und für seine Landsmänner.
Die hatte schon Alfrey gefallen, Godfreys Erstgeborenem. In seiner kindlichen Welt war sie das höchste Gut gewesen, dem das Streben jedes aufrichtigen Mannes gewidmet sein musste. Der Junge selbst indes hatte keine Gerechtigkeit gefunden. Man hatte seinen kalten Leib dem Feuer übergeben und die Asche war vom gefühllosen Wind weggefegt worden.
Das Schlagwort ›Gerechtigkeit‹ aber brachte die Gedanken zum Schäumen. Alle Menschen bejahten sie, obwohl sie sie doch nur im eigenen Wohl verstanden. Hätte Godfrey sein Bestreben anderen erklären müssen, freilich hätte er ebendieses Schlagwort verwendet, um seine Zuhörer nicken zu sehen und ihren Beifall zu gewinnen.
Sein eigentlicher Antrieb war allerdings viel simpler: Was hatte er zu verlieren? Das fünfte Jahrzehnt seines Lebens neigte sich dem Ende. Als Graf hatte er Recht gesprochen, indes nie Gerechtigkeit gesehen. Sollte er doch schauen, ob Almar Helisses seine Gerechtigkeit bekam. Godfreys Beweggrund aber letztlich lautete: »Warum nicht?«
Weshalb sollte er nicht mitziehen, wenn der Prinz ohnehin marschierte? Nie hatte der Bursche einen Hehl daraus gemacht, dass er zur Not zuerst die Eroberung des Südens unternähme, folgte der ihm nicht aus freien Stücken. Sollte ihm keine andere Unterstützung zukommen, so wollte er sein Vorhaben sogar allein mit der Armee seines Onkels durchsetzen – selbst, wenn dies sein Leben kostete. Almar wollte für sein Recht kämpfen und zur Not sterben. Wieso ihm nicht unter die Arme greifen? hatte sich Godfrey damals gefragt. Er war ein reicher Mann, doch nichts als ein einfacher Graf. Man verschrie seine Familie als Kaufleute und beachtete sie kaum. Blieb er in seiner Burg in Atton, er würde nie über das hinauswachsen, wofür man ihn hielt, dabei war er so viel mehr.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...