Man hatte den Burschen auf einen Schemel niedergedrückt. Darauf kauerte er sich zusammen, mit weit vorgelehntem Oberkörper, das Haupt zwischen die Schultern gezogen, die Knie aneinandergepresst. Obwohl seine Hände nicht gefesselt waren, verschränkte er die Finger im Schoß ineinander – ganz so, als suche er Halt an sich selbst.
»Er kam zu Pferd«, erklärte einer der Soldaten mit einer Verneigung, als Wulfrey das Zelt betrat, »mit dem Banner der Vercelles und einer weißen Flagge an einer Standarte. Wir haben ihn abgepasst, ihm den Sack über den Kopf gezogen und dann hergebracht.«
»Gut«, antwortete der Grafensohn. Noch immer war ihm nicht daran gelegen, den Feind erfahren zu lassen, wie viele Männer er in den Kampf führen konnte, oder wie viele Pferde und welche Waffen er zur Verfügung hatte – gleichgültig, dass sie ihr Lager weithin sichtbar auf eine Hügelzunge verlegt hatten.
»Dies trug er bei sich«, fuhr der Soldat fort und reichte über die Schulter des Boten hinweg einen Brief an Wulfrey. Der Gefangene ruckte kurz mit dem Oberkörper hoch, hob den Kopf, der noch immer unter einem dreckigen Jutesack verborgen war, aber sank sogleich wieder in sich zusammen. Vermutlich wollte er sprechen, doch wagte es nicht, das Wort zu erheben, ehe er dazu aufgefordert wurde.
Klug, beschied ihm Wulfrey, indessen er das Siegel des Briefes brach – den Hirsch der Vercelles. Feine, schöne Lettern in schwarzer Tinte schimmerten ihm von dem Papier entgegen. Er studierte sie ein zweites Mal, um zu lesen, was zwischen den Worten und Zeilen zu entdecken war, dann erst ließ er dem Boten den Sack vom Kopf ziehen, wodurch dessen dunkles Haar zerzauste. Der junge Mann neigte das Haupt noch tiefer hinab, um aus der kauernden Haltung heraus eine Verbeugung zum Ausdruck zu bringen.
Eben wollte Wulfrey das Wort an ihn richten, als sich Sir Linet im Zelteingang räusperte. »Verzeiht, mein Herr. Wir haben-«, begann der Ritter mit einer Verneigung, doch unterbrach sich, den Blick mit einem Stirnrunzeln auf den Fremden gerichtet. »Es gibt da etwas, das Ihr Euch ansehen solltet«, fuhr er fort.
»Ich komme«, antwortete Wulfrey. Er nickte den Soldaten zu: »Bringt ihm Wein und Brot, aber lasst ihn nicht allein.«
Der Gefangene fuhr erneut hoch. Mit einer hektischen Geste versuchte er, die Locken zu bändigen, die ihm in die Stirn fielen, als behinderten sie nicht nur seine Sicht, sondern auch seine Worte. Über seine Lippen kam gleichwohl bloß Gestammel, als er sich plötzlich doch entschied, den Grafensohn anzusprechen: »Herr ...äh ...Hantigar. Herr, ich habe noch ...« Wulfrey verließ das Zelt. Das Letzte, was er hörte, war »einen Zweiten!«, aber da lauschte er schon nach anderen Lauten, gen die Sir Linet ihn führte.
Mit jedem Schritt vorwärts näherten sie sich einer Unruhe. Es klang, als versuche jemand, eine Katze zu ertränken. An der Quelle des Lärms fand er zwei Soldaten, die alle Hände voll zu tun hatten, eine zierliche Frau den steilen, steinigen Hang hinaufzuzerren. Sie schlug und trat um sich, wand sich im Griff der Männer und versuchte sogar, sie zu beißen. Bei alldem gab sie jene seltsamen Laute von sich, die doch keine artikulierten Schreie waren. Am Ende packte einer der beiden Burschen ihre Beine und der zweite umklammerte ihren Oberkörper. So hoben sie sie von den Füßen und mussten dennoch weiterhin mit ihr ringen, als hätten sie sich mit einem Rudel Wildkatzen angelegt. Vor Wulfrey setzten sie die Frau ab. Auch dort indes teilte sie weiter aus, keilte und trat nach den Soldaten, bis ihr einer der beiden mit der Faust ins Gesicht schlug. Augenblicklich sank sie auf die Knie. Mit winzigen Fingern tastete sie ihre Wange entlang, vor Schmerz und Überraschung schluchzend.
»Was geht hier vor?«, bellte Wulfrey.
Von ringsherum hatten sich Schaulustige eingefunden – Soldaten, die von ihren Posten abkömmlich waren oder derzeit von ihrem Dienste ruhten; Ritter, die sich eben noch ertüchtigt oder zu Mittag gespeist hatten; Knappen, die aus Zelten eilten oder die Pferde zurückließen, um die sie sich zuvor gekümmert hatten. Auch Sir Gereon kam heran, gefolgt von seinem Knappen Lucas, der des Ritters weiß emaillierte Halsberge und ein Putzleder in Händen hielt.
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Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)
FantasyDie letzte Schlacht ist geschlagen, der König tot. Doch manchmal beginnt der Kampf erst, wenn der Krieg verloren ist. Und so kehrt Clemendine, die unbändige Tochter eines Herzogs, heim, um mit ihrer "Armee der Zerbrochenen" zu beschützen, was die Si...