6 - Der Sohn des Heerführers

36 4 0
                                    

Er hatte das Heerlager des Prinzen mit einem Trupp von bloß vierzig Bewaffneten verlassen – Rittern und Soldaten, die dem Hause Hantigar dienten. Zudem mit zwei Dutzend Packpferden und sechs Knappen. Sie waren der Reichsstraße gefolgt, mit dem breiten, schnell ziehenden Fluss Berann zu ihrer Rechten, dessen Anblick in ihm Erinnerungen weckte. Als Kind, als er seinen Vater zu den Versammlungen der Adligen in der Hauptstadt begleitet hatte, hatten die Schiffe auf dem Fluss all seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Südlich des kleinen Gebirges, dort, wo Wulfreys Heimat Atton lag, war der Berann zerklüftet und kaum schiffbar für anderes als Flöße. Im Norden der Berge hingegen hatte er sich in den Jahrtausenden ein tiefes Bett gegraben.

Das Kind hatte durch das Kutschenfenster hindurch die Schiffe bewundert, die vom Hagsee und den Städten Hargen und Cardd Güter und Menschen bis zur Flussmündung brachten: Sowohl winzige, flinke Boote als auch behäbige, tiefe Kähne, deren Dutzende Riemen sich gleichmäßig – wie ein einziges – bewegten. Auch größere Schiffe mit Segeln aus rotem, grauem, gelbem Tuch; oder aus himmelblauem, das sich vom Sommerhimmel kaum unterschied, wenn sie der Krone unterstanden. Er hatte die Brückenfahrer bestaunt, die mit Seilzügen und Muskelkraft die hölzernen, schwimmenden Brücken ans Ufer zerrten und hinter den Passierenden wieder ausrichteten. Bis die Durchfahrt frei wurde, hatten die Schiffe manchmal dicht gedrängt warten müssen, während Wind und Wellen mit ihnen spielten, und ihre Besatzungen umhersprangen, um die Rümpfe vor dem Aneinanderstoßen zu bewahren.

Der Anblick des Flusses heute indes war ein anderer. Nur vereinzelte Ruderboote hatten sie gesehen, die auf dem breiten Wasserlauf wie Treibholz anmuteten. Eine der Fähren lag viele Meilen nördlich jener Stelle, an der sie einst gefahren war, halb versunken und zerschellt. Im Hagsee, auf dem früher große Segel mit dem Wind gefochten hatten, wiegten sich die schweren Kähne wie tote Fische im seichten Wellengang dumpf auf und ab. Von den fünf schwimmenden Brücken war bloß eine intakt und an rechter Stelle. Von einer weiteren fehlte jede Spur, und die übrigen Drei hatte man ans andere Ufer gezerrt und dort vertäut.

Es schien, als hätten die Menschen der Westerney die Brücken eingeholt, um nicht bloß den Weg, sondern auch die Augen zu verschließen, vor dem, was im Osten geschah. Das aber schützte sie nicht. Loub Robermar, Herzog der Westerney, war vor zwei Monaten in jener Schlacht gefallen, die dem Süden die beiden Flussufer des Lorinn gesichert hatte; sein ältester Sohn war ein Knabe von acht Jahren; dessen Regentin seine kaum fünfzehnjährige Schwester. Gleichgültig, wo sich die Kinder nun verbargen – ob in Cardd oder Rogers Hafen, selbst wenn sie sich nach Seelande in den hohen Norden geflüchtet hatten – schlussendlich waren sie ebenso Verlierer des Krieges, wie all jene, die an Marcius' Seite gekämpft hatten.

Wulfrey bezweifelte, dass es am anderen Ufer des Beranns noch Schützenswertes gab, abgesehen von kalten Häusern, leeren Lagern und trauernden Frauen. Seit Beginn des Krieges hatte er die südliche Hälfte des Landes unzählige Male durchquert, bis ihrem Heer endlich der Einfall in den Norden entlang der Landsenke gelungen war. Dann waren sie durch das Feindesland gezogen, vom Winter behindert, aber doch langsam vorankommend. Sie hatten sich durch die Wälder der Rovna, die Osterney und die Randgebiete der Manderney gekämpft, wo sich ihnen Medard Vercelle mit den Truppen der nördlichen Herzogtümer entgegenstellte und sich Milizen verschanzten; wo man in jedem Bewohner einen Spitzel befürchten musste. Doch ob Norden oder Süden, Westen oder Osten: die Landschaft mochte sich ändern, aber das Leid war überall das gleiche. Es fehlte an Arbeitern, an Vorräten und Material, an Transportmöglichkeiten und freiem Handel.

»In den Herbergen der Krone gibt es immer deftigen, fettigen Eintopf und frisches Brot«, lobte einer der Ritter aus Wulfreys Begleitung, kaum, dass sie des Königs Lande, die Lirell umgaben, verlassen hatten, und der Sohn des Grafen hatte nichts dazu gesagt. Er ahnte – und behielt recht – dass sie keine einzige der Herbergen würden geöffnet finden, denn der König hatte die Soldaten von dort lange schon abgezogen und die Wirte waren schließlich vor den einfallenden Truppen geflohen. Nun waren die Gebäude verrammelt und die Schornsteine über den Dächern erinnerten einzig an Grabsteine, nicht an Kochfeuer.

Die Herrin der Scherben (Die Macht des Dritten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt