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"Drew warte. Was heißt das? Wohin gehen wir? Was hast du vor? Was soll ich anziehen? Brauche ich einen Anzug? Wenn ja, welche Farbe? Smoking? Habe ich nicht. Oder doch leger? Brauch ich eine Jacke? Soll es regnen? Dann nehme ich lieber einen Schirm mit. Wohin gehen wir? Und warum grinst du so?", beende ich meinen Redeschwall und jetzt weiß ich auch, warum Drew so grinst. Meine Fragen. Es muss ihn mächtig amüsieren mich so im dunklen tappen zu lassen.
"Das ist ja schön, dass du solch einen Spaß hast. Aber ich hätte gerne Antworten auf meine Fragen. Vorher gehe ich nirgendwo hin", sage ich beleidigt und lass mich auf das Sofa fallen. Mein Kopf tut noch immer höllisch weh und ich beschließe jetzt gleich und sofort diesen Umstand zu ändern. Die Tablette landet im Wasser, ich beobachte wie das Carbonat und die organische Säure ihre Arbeit aufnehmen und sich Kohlenstoffdioxid bildet. Sprudelnd zerfällt die Tablette langsam in ihre Bestandteile, kleine Bläschen steigen zischend an die Wasseroberfläche empor. Ein leichter Hauch von Zitrone umspielt meine Geschmacksknospen, prickelt auf der Zunge und das schmerzstillende Wasser läuft wohltuend meine Kehle hinab.

"Ich höre", sage ich.
"Leger. Draußen scheint die Sonne. Du brauchst also keinen Schirm. Mehr verrate ich nicht", antwortet Drew und ich bin genauso schlau wie vorher. Zumindest ist die Kleiderfrage geklärt. "Kann ich erst noch einen Kaffee haben?", frage ich und Drew deutet grinsend auf den Esstisch. Dieser ist gedeckt und jetzt bemerke ich auch den Geruch von frischgebrühtem Kaffee und Croissants. Es riecht himmlisch, nur mein Magen ist anderer Meinung. Beim Anblick der luftig lockeren Teigware zieht er sich schmerzhaft zusammen und eine leichte Übelkeit steigt auf. Das Essen lass ich lieber. Kaffee muss reichen.

Es ist bereits Mittag als Drew mich an die Hand nimmt und durch die Massen von Menschen dirigiert. Die U-Bahn ist voll und stickig, es riecht nach Schweiß und Stress, schlechter Laune und zu vielen Menschen auf engstem Raum. Wo wollen diese Menschen alle hin? Nicht ein Platz ist mehr frei und so quetschen wir uns in das Wageninnere und können kaum umfallen. Warme schwitzige Körper, links rechts neben uns, kleine dicke große runde. Und sie alle haben eines gemeinsam, ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Nur Drew nicht. Er strahlt über das ganze Gesicht und seine Wangen tragen diesen sanften rosa Schimmer der Vorfreude. Drew hält sich mit einer Hand am Griff über ihm fest, die andere liegt auf meiner Hüfte. Ganz unbeschwert, fast normal ist diese Geste für ihn. Er lächelt mir aufmunternd zu, denn ich kann meine Abneigung gegenüber der U-Bahn und den Menschen kaum verbergen.

"Verrätst du mir jetzt, wo wir hinfahren?", frage ich und ernte nur ein amüsiertes Kopfschütteln von Drew. Seufzend ergebe ich mich meinem Schicksal und hoffe nur, dass er mich nicht in irgendein langweiliges Museum schleppt. Oder einen elendig langwierigen Vortrag über Planeten, Sterne und die Sonne. Diese Art der Freizeitgestaltung ertrage ich heute nicht. Die Kopfschmerzen drücken pochend gegen meine Stirn und die stickige Luft im Wageninneren macht es nicht besser. Die nuschelige Lautsprecherdurchsage verrät mir, dass wir Central Park erreicht haben. Drew löst sich von mir, ergreift meine Hand und zieht mich mit sich nach draußen in die Freiheit.

Auf dem Bahnsteig geht das Gedränge weiter, Drew hält noch immer meine Hand. Ich fühle mich wie inmitten einer Armee von Ameisen, die ihren Tagesplan verfolgen. Die Arbeiterameisen auf der einen Seite, die Soldaten auf der anderen. Und zwischendrin Drew, der mit langen Schritten zielstrebig Richtung Ausgang schreitet. Er hat verdammt lange Beine. Schöne muskulöse lange Beine. Und er ist groß, überragt die Masse von Körpern um einen halben Kopf. Grazil windet er sich durch die Ameisenarmee und ich folge ihm einfach ohne das Ziel zu kennen.

Das Ziel unserer Reise ist der Central Park Zoo. Erschlagen von einer Erinnerung stehe ich vor dem Nordeingang und starre auf den Uhrenturm. Ich sehe die beiden Affen, die mit kleinen Hämmern auf die Glocke schlagen, tanzende Tiere, ein Elefant mit Ziehharmonika, das Nilpferd spielt auf seiner Geige und der Pinguin schlägt die Trommel vor seinem runden Bauch. Ich höre das Lachen der Kinder und die mahnenden Worte der Eltern. Der süße Geschmack von Popcorn mit einer Note karamellisiertem Zucker, knusprig und klebrig ebenso wie der Geruch nach Zuckerwatte legt sich auf meine Geschmacksknospen. Gefühle wie Liebe und Geborgenheit, aber auch Schmerz und Leid mischen sich unter meine Erinnerungen. Früher, in einer längst vergessenen Zeit meines Lebens, war der monatliche Besuch im New Yorker Central Park Zoo ein liebgewonnenes Ritual in unserer Familie. Einmal im Monat gingen meine Eltern mit mir in den Zoo, kauften Zuckerwatte so weiß und luftig wie die Wolken über uns am Sommerhimmel und süße Limonade, eine klebrige gelbe Flüssigkeit mit zu viel Zucker und dem künstlichen Aroma von Orangen. Der erste Gang war immer zu den Pinguinen. Meine Mutter liebte Pinguine.

"Lewis? Ist alles okay?", fragt Drew besorgt. Sein Daumen streift sanft über meine Wange und ich blinzele kurz bevor ich mich zu ihm drehe. "Warum weinst du?" Ich weine? Hastig taste ich nach meinen Wangen, sie sind feucht, Tränen. Es war der letzte Wunsch meiner Mutter, bevor sie starb, der mir die Tränen in die Augen treibt.
"Alles gut. Lass uns reingehen", sage ich ausweichend, doch Drew hält mich zurück.
"Schlechte Erinnerung? Wir müssen das nicht machen. Ich dachte nur ein entspannter Tag würde uns beiden guttun. Zum reden." Drew senkt seine Stimme als er sagt: "Ohne übereinander herzufallen." Erneut überrascht er mich mit seiner einfühlsamen Art und diesen intensiven Blicken.

"Ein Spaziergang wäre schön", antworte ich nach einer kurzen Pause, die ich brauchte, um mich zu sammeln. Seit dem Tod meiner Mutter war ich nicht mehr im Zoo. Zu viele Erinnerungen, zu viele Tränen.
"Okay. Lass uns etwas spazieren gehen. Dabei können wir auch reden. Oder möchtest du eine Runde mit der Kutsche durch den Park fahren?"
"Nein. Laufen ist gut. Das regt meinen Kreislauf an und vertreibt hoffentlich die letzten Kopfschmerzen." Drew lächelt und beißt sich dabei leicht auf die Unterlippe. Ich sehe seine Zähne, die eine leichte rote Spur auf seiner hellen Haut hinterlassen.
"Worüber möchtest du reden?" Im Moment fällt mir kein passendes Gesprächsthema ein. Also überlasse ich Drew die Entscheidung.

"Ich stelle dir eine Frage und du antwortest. Danach bist du dran. Du darfst mich alles fragen. Ich werde dir eine ehrliche Antwort geben." Verblüfft schaue ich Drew an. Ein Teenager Party Spiel?
"Okay. Was willst du wissen?", frage ich unbeschwert.
"Hasst du mich?"


Lost memory - suddenly marrried -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt