Kapitel 1 [überarbeitet]

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Ich rannte. Ich spürte Schweiß meine Haut hinunterlaufen, während hinter mir Stimmen meinen Namen riefen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, mein Herz trommelte gegen meinen Brustkorb. Ich konnte nichts erkennen, ich stolperte durch unendliche Dunkelheit, doch immer wieder rissen kleine spitze Gegenstände die nackte Haut an meinen Füßen auf - Äste? 

Plötzliche Kälte durchflutete meinen Körper und die Stimmen wurden leiser, entfernten sich immer weiter von mir. Ich seufzte, bewegte meinen Körper – und spürte die heiße und vollgeschwitzte Decke, die mir jemand bis zu den Schultern hochgeschoben hatte.

„Hey, mein Schatz", hörte ich jemanden leise sagen. „Wach auf. Es ist nur ein Fiebertraum."

Langsam schlug ich die Augen auf und schaute in das Gesicht meiner Mutter. Stöhnend versuchte ich mich aufzurichten, doch sie drückte mich zurück in das dicke Kissen unter meinem Kopf.

Meine Mutter lächelte mich an, während ich mir ein paar meiner roten Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und einen Würgereiz versuchte zu unterdrücken. Alarmiert sah ich neben mein Bett, wo ein blauer Plastikeimer stand, den Boden mit ein wenig Wasser gefüllt. Sie hatte das Erbrochene der Nacht bereits ausgeleert und ihn sauber wieder zurückgebracht.

„Wie geht es den Anderen?", fragte ich schwach. „Oder haben sie es wirklich geschafft sich erfolgreich vor mir zu verstecken?"

Meine Mutter lachte belustigt auf.

„Sie sind alle gesund. Ich meine, körperlich zumindest." Sie zwinkerte mir zu und jetzt konnte auch ich nicht anders als ein schwaches Grinsen zum Vorschein zu bringen. Mum spielte auf meine Geschwister an, Emma und die Zwillinge Harry und Calum. Emma zog gerade wieder bei uns ein, war ungemein anstrengend und nervig und mit ihren zwanzig Jahren benahm sie sich wie ein Kleinkind. Bis jetzt hatte sich noch niemand getraut sie zu fragen, ob ihr Freund sie vielleicht deswegen verlassen hatte, aber das würde bestimmt früher oder später noch kommen, auch wenn es einem Selbstmordversuch gleichkäme.

Harry und Calum waren zwei weitere Bewohner dieses großen Hauses. Sie waren Zwillinge und nur schwer voneinander zu unterscheiden, auch wenn wir mittlerweile wussten wer wer war und sie uns nicht mehr in die Irre führen konnten. Nicht, dass Mum jemals darauf reingefallen wäre, aber ich erinnerte mich daran, dass sie früher oft so getan hatte, damit die Beiden sich daraus einen Spaß machen konnten. Meistens war das auch wirklich lustig gewesen, nur manchmal neigten die Beiden zu ausgeprägtem Schwachsinn.

An manchen Tagen, an denen die Drei mir die Nerven gingen, zweifelte ich an unserer Verbundenheit. Also, nicht das ich sie nicht liebte. Das tat ich. Aber je älter ich wurde, desto eher verstand ich, dass ich das nicht im geschwisterlichen Sinne tat, sondern viel mehr aus Freundschaftlichem. Biologisch gesehen waren wir sowieso nicht verwandt. Niemand von uns, derer wir in diesem Haus wohnten. Wir vermittelten zwar das typische Bild der Vorstadtfamilie (großes Haus, wunderschöner Garten und tolle Nachbarschaft), aber eigentlich war hier niemand mit dem anderen verwandt. Meine Eltern hatten uns vier Kinder jeweils kurz nach der Geburt adoptiert, und das war gut so. Wir wussten es alle und wir kamen damit klar.

Martha, unsere neue Mutter, hatte uns mit Liebe aufgenommen. Wir kannten nichts anderes als diese Familie, und wir alle liebten auch niemand anderen so sehr wie wir sie liebten. Keiner von uns hatte, nachdem wir erfahren hatten wer wir wirklich waren, heraus finden wollen wer unsere leiblichen Eltern waren, auch wenn Mum und Dad uns tatkräftig dabei zur Seite gestanden hätten. Unsere Familie war hier, und wir hatten nach einiger Zeit den Entschluss gefasst, dass wir ihnen das auch zeigen wollten. Und selbst die Zwillinge hatten es dabei belassen.

„Mum?"

„Hm?" Sie war gerade dabei gewesen das Fenster zu öffnen, als sie sich zu mir umdrehte.

Die WaldläuferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt