Kapitel 12 [überarbeitet]

267 37 3
                                    

Quälend langsam zwang ich mich aus dem warmen Bett. Leises Gerede von draußen hatte mich geweckt, Gerede von Waldläufern, die ihren ersten morgendlichen Taten hinterhergingen. Mein Blick wanderte nach draußen. Das Fenster ließ mich hinausschauen in einen leuchtenden Wald. Die Blätter wurden immer bunter und schöner. Traurig lächelte ich. Vor meinem inneren Auge sah ich meine Mutter, ihre leuchtenden blauen Augen und wie sie mir ein Buch hinhielt, in dem wir ein rotes Blatt pressten.

Ich erinnerte mich daran, dass wir ein paar Wochen später das Blatt, getrocknet aber wunderschön, laminierten und als Lesezeichen verwendet hatten. Die feinen, getrockneten Linien verliefen wie Adern unter dem so zerbrechlichen Blatt. Es erinnerte an fahle Haut, zusammengefallen und dünn, wie die von alten Leuten. Nur dass in diesem Blatt kein Blut floss, nichts. Es war einfach nur hübsch.

Ich zog mir eine enge Hose an und einen Pulli aus dünnem Stoff. Ein schwarzer Mantel mit Kapuze musste ebenso herhalten und versteckte die braune Farbe des Oberteiles. Vorsichtig öffnete ich die Tür.

Es war wenig los. Für einen Augenblick schloss ich die Augen, lauschte auf das vertraute Geräusch des Rufens einer letzten Eule und roch den Duft der verschwindenden Nacht. Die kühle Luft umspielte mein Gesicht und ließ die Wangen und Nasenspitze auskühlen, während aus meinem Mund kleine Dampfschwaden stießen. Ich liebte diesen Augenblick, diese Jahreszeit.

Mit der Stimme meiner Mutter im Ohr, die mir erklärte wie Photosynthese funktionierte, lief ich die wackeligen Hängebrücken hinab zum Waldboden und schlich vorsichtig zwischen die Bäume. Ich fand einen, auf den man gut klettern konnte und zog mich nach oben, darauf bedacht nicht den Stamm zu berühren. Mir fiel auf, was für einen Muskelkater ich hatte und als ich einmal mein Bein falsch nachzog und gegen das Holz stieß, zog ich vor Schreck und Schmerz scharf die Luft ein. Die Wunde war besser geworden, tat aber trotzdem noch weh.

Ich setzte mich, den Rücken gegen den Stamm gelehnt, und beobachtete die aufgehende Sonne. Ich hatte mich nicht weit vom Dorf entfernt, konnte immer noch alles sehen. Trotzdem schien es mir wie eine kleine Auszeit. Als hätte ich endlich einen Moment der Pause gefunden, einen Moment der Ruhe in dem ich nachdenken konnte.

Ich vermisste meine Mutter. Zwei Monate nach dem Blätterpressen veröffentlichte sie ihr fünftes Buch. „Wellenbrecher" hatte es geheißen. Es war nie mein Lieblingsbuch gewesen, was aber nicht schlimm war. Sie hatte nie von uns verlangt, dass wir uns mit ihrem Beruf auseinandersetzten, kreativ wurden oder Stellung für sie bezogen. Sie schrieb und sie war glücklich damit.

Ihre Ähnlichkeit mit Emma war immer ein Punkt gewesen, der mich irgendwie an ihr gestört hatte. Emma war so perfekt, sie war hübsch, groß, schlank, beliebt. In der Schule war sie Jahrgangsbeste gewesen und von ihrer Selbstsicherheit hätte ich mir häufig gerne ein Stück abgeschnitten.

Mums Perfektion war nicht schlimm gewesen. Mum war einfach so, sie war ein Vorbild. Sie hatte nie in irgendeiner Weise zeigen wollen, dass sie hübsch war. So auffällig sich Emma benahm, so zurückhaltend war sie. Aber Emma... Sie war nicht mit ihr verwandt, wie niemand von uns es gewesen war. Und trotzdem teilte sie so viele ihrer Charaktereigenschaften und Merkmale des Aussehens. Mich hatte das immer gestört.

Jetzt vermisste ich meine Schwester. Sie hatte an einem Tag ihren Bruder und ihren Vater verloren, wie ich. Aber gab sie mir die Schuld daran? Wahrscheinlich. Auch ich konnte nichts gegen diese Schuldgefühle unternehmen die ich ständig versuchte zu unterdrücken. An Emmas Stelle würde ich mich auch hassen.

Ich schluckte und wandte das erste Mal für diesen Morgen den Blick ab von dem wunderschönen Sonnenaufgang. Ich ging den heutigen Tagesablauf durch.

Schule, Pause, Schule. Schlafen. Das würde jetzt für lange Zeit so weitergehen.

„Leserin?"

Ich zuckte zusammen, sah hoch. Vor mir stand die rundliche Beerensammlerin, einen großen Korb auf dem Rücken und in einen dicken Mantel eingepackt.

Die WaldläuferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt