Sechs Monate später

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Clara war auf meinem Schoß eingeschlafen, ihre Haut heiß vom Fieber, das sie seit ein paar Tagen quälte. Ich hatte sie neben mich ins Gras gebettet und strich ihr nun vorsichtig über die Stirn, den Kopf in meinem Schoß.

In der Ferne sah ich drei Personen den Berg hinaufsteigen. Ihre nackten Füße suchten sich ihren Weg zwischen den vielen kleinen Vergiss-mein-nicht hindurch, darauf achtend, keine von ihnen zu zertreten. Ich erkannte die mir so bekannten Bewegungen, bevor sie auch nur bei mir angekommen waren.

Ich sah wieder hinab auf Clara und dachte darüber nach, wie sehr sie sich im letzten halben Jahr verändert hatte. Sie war älter geworden, jeder konnte das sehen, auch wenn das Kind natürlich immer noch in ihr steckte. Sie wurde noch immer geplagt von Alpträumen, aber sie wurden weniger. Manchmal, wenn sie wieder eine ganz schlimme Nacht gehabt hatte, hörte sie wieder auf zu reden, manchmal für eine ganze Woche. Ihre Gedanken darüber, was alles in ihren Träumen geschehen war, ließen sie dann nicht mehr in Ruhe und sie konnte ihren Rückzug in sich selbst nicht verhindern. Auch jetzt hatte sie seit drei Tagen nicht mehr gesprochen. Mit dem Fieber waren auch ihre Träume schlimmer geworden und kein einziger Heiler oder Wurzelpflücker konnte eine Salbe gegen die Erinnerungen herstellen.

Sie war ein tapferes Mädchen und ich liebte sie wie meine eigene Tochter. Sie war mit mir in den Untergrund gegangen als ich damit begonnen hatte diesen auszubauen, obwohl sie Höhlen und Finsternis verabscheute. Die meiste Zeit über hatte sie neben Flynn gestanden und seine Hand gehalten, obwohl dieser allzu oft versucht hatte sie jemand anderem zu überlassen. Er hatte mir helfen wollen, ab einem bestimmten Zeitpunkt jedoch festgestellt, dass er nichts gegen Claras Sturkopf tun konnte.

Es hatte einen Monat gedauert, aber wir hatten es geschafft. Die Höhlenbauer und Astkletterer hatten gemeinsam Bäume gefällt und das Holz zu flachen Brettern verarbeitet, während die Blättersammler sich an die Aufforstung begeben hatten. Die Sterndeuter und Urwäldler hatten währenddessen genug damit zu tun gehabt, unser Hauptdorf, das nun von vielen kleinen, weiteren Dörfern umrundet war, von den neugierigen Menschen zu beschützen. Sie verstanden nicht, weswegen sich plötzlich die Aufgabe aufgetan und erhoben hatte. Ich konnte sie förmlich hören, die wilden Verschwörungstheoretiker und die Wissenschaftler, die sich gegenseitig in den Medien darüber zerfleischten und versuchten einen Grund für all das zu finden.

Ich schmunzelte. Das fünfte Volk war manchmal zu einfach gestrickt. Wie schade, dass die Fantasie der Kinder mit dem Alter schwand. Sie konnten so viel mehr sehen als die Erwachsenen.

Der Zauberbaum war noch immer der Zauberbaum der Kinder aus der Stadt, doch die Bibliothek war sichtbar und somit plötzlich zu einem beliebten Spielplatz geworden. Wir hatten die Bücher jedoch ins Haupthaus gebracht und die Höhlen mit unserer Geschichte geschmückt. Hailey hatte die Geschichte der Waldläufer in der Haupthöhle mit einem hauchdünnen Pinsel in einer wunderschönen Schrift an die Holzwände geschrieben. Ich hatte mit den Zeichnungen begonnen. Ich hatte meine eigenen, bereits begonnen, Zeichnungen binden lassen und auf einen Tisch in der Mitte des Raumes gelegt. Später würden Waldläufer ebenfalls mit Erinnerungsstücken kommen, sie würden Ketten dalassen, gemalte Bilder ihrer verstorbenen Kinder oder die Waffe ihres Partners. Haarsträhnen, Briefe, ein Kleidungsstück. Es wurde wahrhaftig zu dem, was ich mir vorgestellt hatte. In einer anderen Höhle standen die Namen der Verstorbenen. Wir hatten ein Buch angefangen, in dem jeder Name niedergeschrieben worden war. Manchmal stand ich einfach nur da, strich mit der Fingerspitze über die schwarze Tinte und erinnerte mich an den Waldläufer. Ich wusste, ich war nicht die Einzige. Ab und zu kamen ganze Nomadenstämme auf ihrer Reise durchs Land durch das Hauptdorf, das hatten sie seit Jahren schon nicht mehr getan. Die Kultur der Reisenden entzückte diejenigen, die ein festes Baumhaus hatten und entführte sie in das Reich der Rastlosigkeit. Wenn sie ihre Feuerzeremonie vollführten dachte ich an Bree und die Geschichte, die sie mir darüber erzählt hatte, während ich wie ein verängstigtes Tier im Baum gesessen hatte, verzweifelt darum bemüht zu begreifen, was vor sich ging.

Die WaldläuferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt