Ein letzter Tag. Die Bedrückung machte sich im Dorf der Waldläufer breit wie eine Seuche, drückte jeden Keim von guten Gefühlen hinab und ließ jedes Kinderlachen verstummen. Die meisten derjenigen, die nicht würden kämpfen konnten, hatten sich bereits in die Welt der unter der Erde zurückgezogen, die meisten waren alte Waldläufer und Kinder. Nur wenige Mütter hatten Säuglinge, um die sie sich kümmern mussten, sodass die meisten von ihnen ihre Kinder mit den Alten hinab geschickt hatten. Draußen würden sie sie besser beschützen können als drinnen. Doch jede von ihnen versuchte die Frage zu verdrängen, welches dieser kleinen Gesichtchen bald verzerrt sein würde von dem bitteren Schmerz der Wahrheit, dass sie bald Waisen wären.
Katika, Soli und Ketu hatten sich soweit wieder erholt und einen Tag lang mit mir und meinen Freunden trainiert. Ich hatte den Rest der Nacht, in der Ethan mir von sich erzählt hatte, keinen Schlaf mehr finden können, und um am Tag nicht in eine Trance zu fallen, hatte ich Serena gebeten mich noch ein letztes Mal zu unterrichten. Wie immer hatte sie mich besiegt, doch zufrieden stellte ich fest, dass es ihr nicht mehr allzu leichtfiel wie am Anfang.
Nun schmerzten meine Muskeln, doch ich ignorierte ihre Schreie nach Ruhe und lief stattdessen durch das Dorf. Manche Stellen waren mittlerweile wie ausgestorben, Baumhäuser, die leergeräumt waren und die keiner mehr benutzte. Die Waldläufer waren zusammengerückt und machten keinen Unterschied mehr untereinander.
„Diane!" Ninas verzweifelte Stimme erreichte mich und ich wusste instinktiv, was geschehen war. Voller Angst drehte ich mich um, hoffte, mich zu täuschen. Doch die Tränen, die ihr in Sturzbächen über die Wangen liefen, bewiesen mir das Gegenteil.
„Es ist so weit", flüsterte sie leise.
Unsere Füße rannten über den Waldboden, zwischen Kriegern, Müttern und Vätern hindurch, in den Wald. Troy hatte es sich nicht nehmen lassen und war aus dem Krankenhaus verschwunden, nur Stunden nachdem wir miteinander geredet hatten. Nun saß er mit krummen Rücken gegen einen Baum gelehnt, das Kinn auf die Brust gesunken.
„Troy." Ninas Stimme klang vorsichtig und voller Schmerz, als sie ihre Finger sachte unter sein Gesicht legte. Sie hob es hoch. Seine grünen Augen hatten ihren Glanz verloren und wirkten matt. Müde. Ich bemerkte, dass sein ganzer Körper zitterte, oder zumindest das, was davon übriggeblieben war. Er hatte kaum noch etwas gegessen und bestand nur noch aus Haut und Knochen, kaum stark genug, um alleine zu laufen. Wahrscheinlich hatte er diese Begabung bereits verloren.
„Diane", hauchte der Urwäldler. Seine grauen Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl ein Lächeln hätte sein sollen, doch es war zittrig und fiel sofort in sich zusammen.
„Er ist ein alter Mann im Körper eines Jungen", sagte Nina leise zitternd. Vorsichtig half sie ihrem Bruder dabei sich hinzulegen und bettete seinen Kopf in ihren Schoß.
„Der Wald hat mir die Zeit genommen, die ich Nina geschenkt habe", krächzte Troy unter Anstrengung und lachte trocken. Husten kroch aus seiner Kehle. „Aber es gibt wohl kaum eine bessere Zeit zu sterben, als vor einem großen Kampf, der mich wahrscheinlich sowieso mein Leben gekostet hätte."
Ich sah zu Nina, die die Augen geschlossen und die Lippen aufeinandergepresst hatte. Troy, der endlich zu bemerken schien wie sehr seine Worte seine Schwester getroffen hatten, setzte wieder zum Reden an. Röchelnd holte er Luft und sagte dann: „Bitte, passt aufeinander auf. Das ist mehr alles, was ich mir wünschen kann." Nun hob Nina den Blick und sah mich aus ihren tiefen Augen lange an. Der Kloß in meinem Hals hinderte mich am Sprechen und sorgte dafür, dass mir Tränen in die Augen stiegen.
„Nina", rief Troy nach seiner Schwester.
„Ja, ich bin hier." Sie beugte sie über den Kopf ihres Bruders, doch seine Augen starrten seltsam in die Leere, vorbei an ihrem Gesicht. Die Urwäldlerin schlug sich die Hand auf den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Troy war blind.
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Die Waldläufer
FantasyMein Name ist Diane. Ich erzähle eine Geschichte, die mir niemand glauben wird. Kein Mensch zumindest. Ob du es tun wirst, weiß ich nicht. Das werde ich auch nicht herausfinden, denn ich schätze, wir werden uns niemals persönlich treffen. Aber n...