Kapitel 10 [überarbeitet]

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Ich schlief wenig in der Nacht, träumte die ganze Zeit von Harry und Dad. Sie lagen unter ihren weißen Tüchern, erhoben sich aber irgendwann während der Zeremonie langsam. Totenbleich, mit unterlaufenen und roten Augen, starrten sie mich an. Alle anderen entfernten sich immer weiter, Emma und Calum blickten plötzlich so hasserfüllt, dass ich verzweifelt und panisch anfing zu fragen was vor sich ging.

„Es ist alles deine Schuld", giftete die Stimme Harrys, während Dad enttäuscht dreinblickte.

„Du warst alles für mich, Eule", sagte er mit vor Trauer triefender Stimme. „Aber du hast mich umgebracht"

Schweißgebadet wachte ich jedes Mal wieder auf, während der Traum mich Stunde um Stunde einholte, manchmal länger, manchmal kürzer. Irgendwann, als am dunklen Himmel die Sonne begann aufzugehen, entschied ich mich gegen weitere Versuche ein wenig Schlaf zu finden und zog mich stattdessen an, wartete darauf, dass Calum, der mit mir in meinem Baumhaus geschlafen hatte, ebenfalls aufwachte.

Die Morgendämmerung hatte die Dunkelheit der Nacht noch nicht vertrieben als es an der Tür klopfte. Calum setzte sich im Bett auf und verfolgte reaktionsbereit die Situation. Vorsichtig, meine Hand am Griff des Messers in meinem Umhang, öffnete ich die Holztür.

Vor mir stand einer der Sterndeuter, die gestern die Beerdigungszeremonie geleitet hatten. Überrascht stellte ich eine gewisse Härte in seinen Augen fest, mit der mir hier noch keiner begegnet war.

„Darf ich reinkommen, Meisterin?", fragte er, ohne sich zu verbeugen. Ich nickte zögerlich und schloss hinter ihm die Tür. Doch es war noch kein Waldläufer zu sehen.

„Ich darf mich vorstellen", sagte der alte Mann, während Calum aus dem Bett aufstand und sich aufbaute. Er trug kein Oberteil, und nur eine lange, locker sitzende Hose. Er musste frieren. Doch er ließ sich das nicht anmerken, sondern musterte den Mann stattdessen argwöhnisch und mit knacksenden Fingern.

„Ihr könnt Euch beruhigen, junger Mann", bemerkte der Alte und blickte Calum aus seinen eisig blauen Augen ruhig, aber bedrohlich, an. „Ich bin nicht gekommen um Euch zu bedrohen."

„Sagen kann man das leicht", entgegnete Calum. „Aber ehrlich gesagt habe ich ein paar Probleme mit dem Vertrauen Euch gegenüber."

Der Sterndeuter hatte sich bereits mir zugewandt, stockte nun jedoch wieder. Vorsichtig, aber mit sicheren Schritten schritt er auf meinen Bruder zu. Ich folgte ihm etwas unsicher, die Hand immer noch am Messer. Calum, der nicht zeigen wollte, dass er die Situation vielleicht doch fürchtete, bewegte sich keinen Zentimeter. Dann endlich blieb der Alte stehen – eine Handbreit von meinem Bruder entfernt.

„Ich erwarte kein Vertrauen", sagte der Alte leise. Seine Stimme klang unheimlich, dunkel und rau. „Aber Ihr solltet lernen zu erkennen, wer Euch dennoch helfen möchte und wer nicht."

Calum antwortete nicht, lieferte sich nur ein langes Blickduell mit dem Alten. Dann, endlich, sah er weg und suchte meinen Blick. Ich zuckte mit den Schultern.

Endlich drehte sich der Mann wieder zu mir um. Erst jetzt fiel mir auf, wie faltig und eingefallen sein Gesicht war, auch wenn seine Statur kräftig und für sein hohes Alter sehr muskulös war. Er war kleiner als Calum und ich, machte den Größenunterschied jedoch durch seine Ausstrahlung schnell unwichtig.

„Eure Rede während der gestrigen Zeremonie war sehr gewagt", sagte er und schritt durch den Raum. Bei der kleinen Küchenanrichte zog er wahlweise Schubladen heraus und dann einen Beutel voll mit Teeblättern.

„Nicht alle haben sie akzeptiert und als Richtig empfunden."

Ich schluckte, beobachtete aber gespannt die selbstsicheren Handgriffe des Alten. Er füllte Wasser in einen schwarzen Kessel und stellte diesen dann auf den kleinen Ofen. Den brachte er durch ein paar dünne Stöckchen und Holzmäuse zum Brennen. Während er den Ofen weiter anstachelte, traute ich mich endlich eine Frage zu stellen.

Die WaldläuferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt