Kapitel 2 [überarbeitet]

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Ich wollte immer Künstlerin werden. Also eine Bezahlte. Nach meiner Definition war nämlich jeder ein Künstler, man musste diese Seite nur an sich entdecken.

Meine Seite hatte ich schon seit Jahren gefunden. Ich zeichnete und malte, und beides nicht gerade schlecht.

Nach der Begegnung mit dem Hirsch im Wald zeichnete ich tagelang das Gleiche. Harry machte sich schon Gedanken ob es mir seelisch gut ging, doch es war wirklich alles hervorragend. Mal konnte ich genau detailgetreu die Situation wiedergeben, mal entwarf ich einen Hirschkopf aus Blumenranken und Blüten. Wieder ein anderes Mal zeichnete ich das, was sich in meinem Kopf abspielte, ein Mädchen mit nackten Füßen und in einem Kleid, das das Gefühl der Haare in ihrer Hand genoss und den warmen Atem des Tieres.

Wie auch immer, Emma entdeckte die Zeichnungen sehr bald. Zumindest vermutete ich das. Ich hatte sie nie auf frischer Tat ertappt, aber die Schublade war offen gewesen als ich vom Duschen wiederkam, und ich war mir sicher gewesen, dass ich sie geschlossen hatte. Harry und Calum hätten es nicht gewesen sein können, sie waren beim Karate Training gewesen.

Der nächste Tag in der Schule war dann wie das Aufwachen aus einem Traum. Mit einer schlechten Hausaufgabenüberprüfung musste ich leider feststellen, dass ich komplett vergessen hatte irgendetwas zu machen am Wochenende.

Emma erwischte mich auf dem Nachhauseweg. Sie ging auf eine benachbarte Schule von mir und den Zwillingen und war die Einzige, die wusste was sie später mal machen wollte. Sie war sportlich und – so ungerne ich es auch manchmal zugab – extrem clever. Für sie war es ein Leichtes, Sportmedizin zu studieren und dann in renommierten Praxen arbeiten zu können.

In Gedanken an den Schultag verschwindend schreckte mich meine Schwester auf, indem sie neben mir mitten auf der Hauptstraße mit dem Auto hielt und mir unmissverständlich klarmachte, dass ich einsteigen sollte. Etwas genervt tat ich ihr den Gefallen, auch mit dem Hintergedanken nicht im Fokus der Wut der Autofahrer hinter ihr zu stehen.

In ihrem Wagen herrschte frostige Kälte. Nichts von der liebevollen aber gleichzeitig fremden Art, die sie zwei Tage zuvor in meinem Zimmer gezeigt hatte, war mehr da. Stattdessen schwiegen wir uns gegenseitig an, bis ich endlich das Wort ergriff.

„Was ist denn los?", fragte ich sie und war froh, dass der Bann endlich gebrochen war. Emma brauchte jedoch trotzdem noch einen kurzen Moment um mir antworten zu können.

„Was ist mit deinem Bein passiert?", stellte sie mir eine Gegenfrage. Ich verdrehte die Augen.

„Nichts Schlimmes, Em", erwiderte ich etwas genervt und schaute aus dem Fenster.

Sie sagte nichts weiter dazu, stattdessen fuhr sie neben McDonalds in eine kleine Straße und bremste dann vorsichtig ab.

„Ich bin gleich wieder da", murmelte sie, stieg aus und verriegelte das Auto.

Es wäre ein Leichtes für mich gewesen einfach abzuhauen, aber ich ließ es bleiben. Dieser Ort war mir bekannt, dieser Block war der Einzige in der Stadt an dem man leicht an Drogen kommen konnte, und in seltenen Fällen sogar an Waffen. Aber normalerweise geschah das immer erst abends oder nachts, und nicht am helllichten Nachmittag.

Ich brauchte nicht lange zu warten, da kam Emma aus einer Garage und zog Harry neben sich her. Mir stockte der Atem. Verdammt. Woher wusste sie, dass er sich hier manchmal mit ein paar Freunden zum heimlichen Rauchen traf? Nur Calum und ich wussten davon, Calum weil er derjenige war der seinen Bruder mit hierhin geschliffen hatte, und ich, weil ich die beiden vor einem Jahr erwischt hatte. Sie hatten mir das Versprechen abgeluchst nichts zu sagen, und ich hatte mich darauf eingelassen, weil ich keinen Nachteil darin sah. Im Gegenteil, es war immer gut Kontakte in alle möglichen Richtungen zu haben.

Die WaldläuferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt