9. Eine Hand wäscht die andere

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Am gleichen Abend hatten sie ihr Lager weiter westwärts aufgeschlagen, weil Erik, Askan und Eskil, so wie sie Luis und Ben berichtet hatten, auf dem Weg in die Stadt Ensgard waren.

Luis und Ben trugen nun keine Fesseln mehr und saßen gemeinsam mit den drei Männern am Lagerfeuer. Das Feuer schien warm und beruhigend auf Luis' Haut und er fühlte sich zum ersten Mal, seit er und Ben im Waisenhaus durch das Loch im Boden gefallen waren, in Sicherheit. Wie sich herausgestellt hatte, waren die drei Männer sehr nett und überhaupt nicht so verrückt wie Luis zunächst angenommen hatte. 

„Erzählt mal", forderte Erik sie auf, während er genüsslich in ein Stück Fleisch biss, welches er sich kurz zuvor am Feuer warm gemacht hatte. „Was haben zwei Kinder wie ihr, in der Klauenschlucht zu suchen?".

„Die Klauenschlucht?", fragte Ben, der direkt neben Luis auf einem Baumstamm saß.

Erik lachte ein brummendes Lachen. „Die Klauenschlucht. Ihr wisst schon! Der gefährlichste Ort von ganz Baldrien". Er beugte sich vor und Luis konnte durch den Schein des Feuers auf seinem Gesicht die Fleischstücke sehen, die in seinem Bart klebten.

Ben zuckte mit den Schultern. „Noch nie davon gehört", antwortete er.

„Vielleicht stammen sie aus einem anderen Land?", fragte Eskil, der ein wenig abseits des Feuers in den Schatten saß und bisher geschwiegen hatte. „Aus Knorpelsheim oder Daridien?".

Luis und Ben schüttelten die Köpfe.

„Nein", sagte Ben. „Wir kommen aus Falkenstein".

„Und wie seid ihr dann hierhergekommen?", fragte Erik, der sich die nächste Portion Fleisch nahm und in seinen Mund schob.

Ben und Luis tauschten einen kurzen Blick. Luis wusste, dass sie an das Gleiche dachten. Sie würden diesen Männern, auch wenn sie nun freundlich zu ihnen waren, nicht mehr erzählen als nötig war.

Luis wusste selbst nicht, was das alles zu bedeuten hatte.

„Das wissen wir nicht mehr", antwortete Ben.

Luis nickte zustimmend.

„Wir können uns an nichts erinnern", ergänzte er.

„Also stimmt es?", fragte Askan, der Schwarzhaarige, der Ben und Luis gegenüber auf dem Boden saß. „Ihr wisst von nichts?".

Luis und Ben schüttelten die Köpfe.

Erik lachte auf. „Ich habe ihre entsetzten Gesichter gesehen, als ich mich verwandelt habe. Ich glaube ihnen, wenn sie sagen, dass sie nichts wissen".

„Wie hast du das gemacht?", fragte Luis, der in diesem Moment alle Vorsicht außer Acht ließ und sich gespannt nach vorn beugte. Immerhin sah man nicht jeden Tag, wie sich ein Mann vor seinen Augen in einen Wolf verwandelte.

„Erik ist ein Askit", erklärte Askan. „Ein Tierwandler".

„Also kannst du dich in jedes Tier verwandeln?", fragte Ben, der nun ebenfalls interessiert über das Feuer hinweg auf Erik starrte.

Erik schüttelte den Kopf. „Nein. Askiten können bloß die Form eines Tieres annehmen und in meinem Fall ist es die Gestalt eines Wolfes".

„Das ist unglaublich!", sagte Luis voller Ehrfurcht. „Ich wünschte, ich könnte mich auch in ein Tier verwandeln".

Erik schüttelte den Kopf. Auf seinem Gesicht lag nun ein dunkler Schatten. „Sei lieber vorsichtig mit dem was du dir wünscht", flüsterte er. Luis starrte ins Feuer zurück. Er fragte sich, wie weit er und Ben nun von zu Hause entfernt waren. Baldrien, Knorpelsheim und Daridien? Luis war zwar noch niemals ein besonders guter Erdkundeschüler gewesen, aber er war sich ziemlich sicher, dass diese Orte nicht auf der Weltkarte zu finden waren.

Luis wagte es nicht die Gedanken an seine Familie zuzulassen. Er fürchtete sich vor dem Gedanken, dass er niemals wieder nach Hause zurückkehren würde.

Er wusste, dass es Ben genauso erging.

„Warum müsst ihr in diese Stadt?", fragte Ben und riss Luis damit aus seinen traurigen Gedanken heraus. „Warum müsst ihr nach Ensgard?".

„Wir treffen einen Freund", war die schlichte Antwort, die Eskil ihnen gab.

„Caio?", fragte Luis, der sich nun wieder an das Gespräch der Männer in der Höhle erinnern konnte. Er war sich sicher, dass sie diesen Namen erwähnt hatten.

Askan beugte sich vor. „Woher hast du diesen Namen?", fragte er.

„Ich habe euch über ihn reden hören", antwortete Luis schulterzuckend.

Erik schnaubte laut auf. „Ich habe euch gesagt, dass wir in ihrer Nähe vorsichtiger sein sollten!". Sein Tonfall klang vorwurfsvoll.

„Wegen Amon?", fragte Ben und Luis hörte die Neugier, die in seiner Stimme mitschwang. Auch er musste zugeben, dass er unheimlich neugierig war. Diese drei Männer schienen auf einer geheimen Mission zu sein. Sie hatten Messer und Schwerter und Erik war sogar in der Lage dazu, sich in einen Wolf zu verwandeln. Diese ganze Geschichte erinnerte Luis an die Bücher, die er gemeinsam mit seinem Großvater gelesen hatte. Bücher die von Helden handelten und von Bösewichten. Er hatte von Hexen und Kobolden gelesen und von mutigen Kriegern.

„Sssht!",zischte Erik, während er sich einen Finger an die Lippen presste. „Ihr solltet seinen Namen nicht in den Mund nehmen. Ihr könnt nie wissen, wer euch zuhört".

„Wir sollten es ihnen erzählen", schlug Askan vor, woraufhin er, für seinen Vorschlag wütende Blicke von Erik und Eskil erntete.

„Das halte ich für keine gute Idee", sagte Erik. „Wir können ihnen nicht trauen".

„Dann mache ich euch einen Vorschlag", sagte Askan und lächelte leicht, während er Luis und Ben aufmerksam beobachtete. „Wir erzählen euch alles, was wir über Baldrien wissen und ihr helft mir morgen bei einem kleinen Unternehmen".

Er wechselte einen kurzen Blick mit Eskil und Erik, die sofort zu verstehen schienen und beide zur Antwort nickten.

Ben und Luis wechselten ebenfalls einen Blick, denn sie verstanden beide nicht was los war. Ihre Neugierde überwog.

„Okay", antworteten beide gleichzeitig. „Wir helfen dir!".

Chroniken der Hexer IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt