Luis wurde von der rennenden Menschenmenge in alle Richtungen geschubst. Er war vollkommen orientierungslos.
„Askan!", rief er mehrmals laut aus, doch er hatte ihn aus den Augen verloren. Er dachte an Ben und die anderen und hoffte, dass es ihnen gelungen war, sich in Sicherheit zu bringen. Eine Weile kämpfte er gegen die Menschen an, die ihn drückten, im Vorbeirennen traten und schoben, doch irgendwann gab er auf und ließ sich von der Menge mitziehen. Luis hatte Ensgard zwar nur für einen kurzen Moment bei Tageslicht gesehen, doch er vermutete, dass sie in die Richtung des Stadttores liefen, um aus der Stadt zu fliehen. Das Wolfsgeheul kam näher und Luis hörte, wie die ersten Menschen von den Blutwölfen aus der Masse gerissen wurden. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Er hatte panische Angst.
Die Menschen wurden nun noch panischer und schlugen und traten um sich, ohne darauf zu achten, wen oder was sie dabei trafen. Luis wusste, dass die Blutwölfe nun fast bei ihnen waren.
Er sah sich um und entdeckte in ein paar Metern Entfernung, durch die Beine der Menschen hindurch, eine kleine Seitenstraße.
Ihm kam eine Idee. Ein letzter, verzweifelter Versuch, sich zu retten.
Er drehte sich um und rannte gegen den Strom. Ein paar Fäuste trafen ihn an den Armen und am Rücken, doch er rannte immer weiter und atmete erleichtert aus, als er endlich die Seitenstraße erreicht hatte.
Er ließ sich einen Moment gegen eine Wand sinken. Sein Atem ging stoßweise. Er spürte das laute Klopfen seines Herzens, bis in seinen Kopf. Er sah noch einmal zurück, auf die fliehende Menge.
Seine Knie zitterten und er war sich plötzlich darüber bewusst, dass er in dieser Seitenstraße keineswegs außer Gefahr war.
Die Blutwölfe könnten ebenfalls in diese Seitenstraße laufen und ihn dort finden. Luis wollte nicht als Wolfsfutter enden.
Er drehte sich um und rannte tiefer in die Seitenstraße hinein. Irgendwann blieb er stehen. Er war am Ende seiner Kräfte. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Kehle brannte vor Durst. Er war kurz davor aufzugeben, als er plötzlich einen markerschütternden Schrei hörte.
„Hilfe!".
Es war die Stimme eines Mädchens. Ohne darüber nachzudenken, rannte er los, immer weiter auf die Stimme zu, die so verzweifelt nach Hilfe rief. Als er links um eine Ecke bog entdeckte er das Mädchen.
Sie stand mit dem Rücken gegen eine Wand gepresst und blickte ängstlich zu dem Wesen auf, das ihr solche Angst bereitete.
Ein Ishdur.
Luis erkannte ihn sofort an dem langen grauen Umhang und der Kapuze, die er tief über sein Gesicht gezogen hatte.
Luis blickte sich auf dem Boden um und griff nach dem Erstbesten was er entdecken konnte. Er griff nach einem Stein. Er hob ihn auf und warf dem Ishdur den Stein gegen den Kopf.
„He!", rief Luis. „Hier bin ich!".
Der Ishdur drehte sich langsam zu ihm um und ließ von dem Mädchen ab.
„Wer wagt es?", fragte der Ishdur mit schnarrender ruhiger Stimme. Seine Stimme klang unmenschlich verzerrt.
„Ich. Wer sonst!", rief Luis kühner zurück, als er sich fühlte.
„Entweder bist du der mutigste Junge, der mir jemals begegnet ist, oder der dümmste", antwortete der Ishdur und Luis konnte zwar nicht das Gesicht des Ishdurs sehen, aber an dem Klang seiner schnarrenden Stimme hören, dass er lächelte.
Das Mädchen stand noch immer mit dem Rücken zur Wand und starrte Luis argwöhnisch entgegen. Er konnte sie durch die Dunkelheit nicht gut erkennen, doch er hoffte so etwas wie Dankbarkeit in ihrem Gesicht erblicken zu können. Stattdessen warf sie ihm einen Blick zu, der so aussah, als ob auch sie sich fragte, ob er dumm war.
„Lass sie ihn ruhe!", rief Luis und hob noch einen Stein vom Boden auf. Der Ishdur gab ein leises, rasselndes Geräusch von sich, das nach einem merkwürdig verzerrten Lachen klang. „Denkst du wirklich, dass mich deine kleinen Steine aufhalten können? Dann bist du tatsächlich ein dummes Kind", sagte der Ishdur. Seine Stimme klang nun nicht mehr vergnügt.
„Lauf!", rief Luis dem Mädchen zu.
Sie schien nicht lange zu überlegen, drehte sich um und rannte los.
Luis war nun allein mit dem Ishdur. Ein paar Sekunden verharrte dieser auf der Stelle und blieb völlig reglos. Luis hielt den Stein warnend in die Höhe. Er hoffte, dass der Ishdur das Interesse an ihm verlieren würde. Doch das tat er nicht. „Ich kann dich riechen", sagte er plötzlich.
„Was?", fragte Luis.
„Ich kann dich riechen", wiederholte der Ishdur und Luis hörte wieder das Lächeln in seiner Stimme. Die Richtung, in die das Gespräch verlief, gefiel ihm gar nicht.
Er hörte laute Schritte die näher kamen und hoffte inständig, dass er sich diese nicht eingebildet hatte und nun Hilfe nahte.
„Willst du nun kämpfen oder nicht?", fragte Luis mutig.
Ben wäre stolz auf ihn gewesen.
„Kämpfen?", fragte der Ishdur und gab wieder ein rasselndes Lachen von sich. „Noch bist du zu schwach, um gegen mich zu kämpfen, kleines Hexenkind. Aber du wirst stark werden. Stärker als jeder andere vor dir. Es wäre ein Jammer, dir jetzt deine Magie zu rauben, wo ich doch in ein paar Jahren zurückkehren und sie dir dann rauben kann, wenn sie großartig und kraftvoll ist!".
Der Ishdur lachte noch einmal, dann drehte er sich plötzlich um und verschwand in der Dunkelheit.
Luis stand noch immer mit dem Stein in der Hand bewaffnet da und starrte auf die Stelle, an welcher der Ishdur zuvor gestanden hatte.
Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich schnell herum. Er hatte Angst, dass ein weiterer Ishdur gekommen war.
Doch anstelle eines weiteren Ishdurs stand Askan vor ihm, der die Augen weit aufgerissen hatte und ihn mit einer Mischung aus blankem Entsetzen und Argwohn musterte.
„Wer bist du bloß?", fragte er.
„Hast du alles gehört?", fragte Luis und fühlte sich merkwürdigerweise ertappt. Er wusste nicht wieso.
Askan nickte langsam.
Luis verspürte den Drang sich zu erklären, doch er wusste nicht was er Askan sagen sollte, da er selbst überhaupt nicht wusste was hier vor sich ging.
„Komm. Wir müssen hier weg... Zu den anderen", sagte Askan knapp und streckte Luis seine Hand entgegen, die er bereitwillig ergriff.
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Chroniken der Hexer I
FantasyLuis Freymann ist eigentlich ein ganz normaler Junge, der mit seiner Mutter Diane und seinem Großvater Theo in dem ruhigen Ort Falkenstein lebt. An seinem dreizehnten Geburtstag begibt er sich gemeinsam mit seinem besten Freund Ben in das alte und v...