23. Ein unmöglicher Zufall

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„Stell dich nicht so an, Erik!", schimpfte Jorgen, der sich gerade an einer tiefen Wunde auf Eriks Rücken zu schaffen machte. Erik hatte sein vernarbtes Gesicht vor Schmerz verzerrt.

„Bist du schon mal von einem Blutwolf gebissen und gekratzt worden, Jorgen?", fragte Erik knurrend.

Jorgen seufzte und tunkte das Tuch, mit welchem er Erik behandelte, wieder in die braune Tinktur, die er angemischt hatte, um die Wunden zu heilen.

„Zum Glück nicht. Sonst wäre ich jetzt Tod. Das weißt du!", antwortete Jorgen nach einer Weile und rollte dabei genervt mit den Augen.

Askan versuchte ein Schmunzeln zu unterdrücken.

Sie befanden sich in einem Hinterzimmer der Gaststätte „zum kleinen Falken". Sie hatten Glück gehabt, dass Margie und Jorgen sie aufgenommen hatten und Jorgen zugestimmt hatte Erik zu heilen. In diesen schweren Tagen war es nicht selbstverständlich Feinde der Herrschaft Amons bei sich aufzunehmen. Askan war froh darüber, dass er noch viele Kontakte aus alten Zeiten in ganz Baldrien hatte, sonst wären sie aufgeschmissen gewesen.

„Pass doch auf!", brüllte Erik nun wütend, als Jorgen ihm das Tusch mit der braunen Tinktur auf die Wunde drückte.

„Wir wären schneller, wenn du dich nicht anstellen würdest wie ein altes Weib!", schimpfte Jorgen zurück. Die Tür zum Hinterzimmer öffnete sich und Margie trat ein. „Wenn ihr beiden weiter in dieser Lautstärke hier herumbrüllt, werden es die Wachen bis ins Flammental hören! Dann wissen alle, dass wir euch hier versteckt halten", meckerte sie. Ihr Blick wanderte zu Askan.

„Dein Junge hat sich nach Erik erkundigt", sie kniff die Augen leicht zusammen. Askan stöhnte innerlich. Natürlich wollte Luis wissen, wie es Erik ging. Doch er konnte Luis noch nichts sagen. Die Gefahr war einfach zu groß. Askan war sich nicht sicher, ob Luis alles verstehen würde.

Ein Bild erschien vor seinem inneren Auge.

Ein Bild, welches ihn seit Tagen verfolgte und ihn nicht mehr losließ.

Luis, der vor dem Ishdur in Ensgard stand und sich ihm mutig in den Weg gestellt hatte.

„Noch bist du zu schwach, um gegen mich zu kämpfen, kleines Hexenkind! Aber du wirst stark werden! Stärker als jeder andere vor dir! Es wäre ein Jammer, dir jetzt deine Magie zu rauben, wo ich doch in ein paar Jahren zurückkehren und sie dir dann rauben kann, wenn sie großartig und kraftvoll ist!".

Die Worte, die der Ishdur gesagt hatte, nagten an Askan. Was hatte das zu bedeuten? Eigentlich hätten ihn diese Worte nicht überraschen dürfen. Askan war sich sicher, dass Luis und Ben nicht ohne Grund in Baldrien gelandet waren und dass sie in irgendeiner Weise mit dem Land verbunden sein mussten. Askan räusperte sich.

„Margie", sagte er. „Kann ich kurz mit dir unter vier Augen sprechen?". Margie nickte kurz und führte Askan heraus aus dem Hinterzimmer, an der Theke vorbei und die Treppe hinauf zu den Mietzimmern und in das hinterste Zimmer, welches das Privatzimmer von ihr und Jorgen war. Nachdem beiden eingetreten waren schloss Margie die Tür hinter ihnen ab.

Askan murmelte einen kurzen Zauberspruch, um das Gespräch vor neugierigen Ohren abzuschirmen.

„Was gibt es?", fragte sie.

Askan schritt im Zimmer ein paar Mal auf und ab. Es fiel ihm schwer die richtigen Worte zu finden, ohne Luis bloßzustellen oder ihn damit vielleicht sogar in Gefahr zu bringen. Er vertraute Margie. Sie kannten sich seit über vierzig Jahren und er war in der Vergangenheit schon häufig bei ihr untergetaucht. Aber nun über Luis zu sprechen, fiel ihm schwer. Er hatte eine wage Vermutung, was es mit dem Jungen auf sich hatte, aber er wagte es nicht den Gedanken laut auszusprechen.

„Hör auf durch das Zimmer zu laufen wie ein geköpftes Huhn und rede mit mir!", schimpfte Margie und Askan hörte die Ungeduld in ihrer Stimme.

Er blieb stehen und blickte ihr in die Augen. Er erkannte den Argwohn darin. „Bevor ich mit dir spreche, musst du mir schwören, dass unser Gespräch geheim bleibt!". Margie zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Askan konnte es ihr nicht verübeln. Er hatte ihr noch niemals zuvor je ein Versprechen abverlangt und er hatte mit ihr schon über viele geheime Dinge gesprochen. Margie legte ihre rechte Hand auf die Brust. „Ich schwöre auf die vier großen Kinder Baldriens, dass dieses Gespräch auf ewig unter uns bleiben wird!", verkündete sie feierlich.

Askan nickte kurz.

„Wie viel weißt du über die anderen Welten?", fragte er dann. Margie riss erstaunt die Augen auf. Damit hatte sie bestimmt nicht gerechnet.

„Ich kenne nur ein paar Geschichten", antwortete sie. „Habe mal das ein oder andere irgendwo aufgeschnappt".

Askan ließ sich auf das Bett sinken. Die Laken rochen frisch und sauber. Am liebsten hätte er sich sofort hineingelegt und geschlafen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal mehr als zwei Stunden geschlafen hatte. Er blickte zu Margie auf. „Meinst du es ist möglich, dass ein Mensch aus einer anderen Welt magische Fähigkeiten besitzt?".

Margie ließ sich neben Askan aufs Bett sinken und atmete tief aus. Sie schien über die Frage nachzudenken. Die Minuten verstrichen, bis Margie schließlich antwortete: „Ich glaube nicht dass es möglich ist. Der alte Ulf unten am Kriegerfluss hat mir immer Geschichten erzählt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Er hat mir auch von den anderen Welten erzählt. Er hat gesagt, dass es Welten sind, in denen es keine Magie gibt. Mir kam das immer unmöglich vor, aber die Vorstellung von einer Welt ohne Magie gefiel mir. Sie schien mir friedvoller zu sein". Askan beobachtete Margie. Ihr Blick schien in weiter Ferne zu liegen.

„Das habe ich mir schon gedacht", antwortete Askan, der in seine eigenen Gedanken vertieft war. Wenn Luis also wirklich magische Fähigkeiten besaß, musste er aus Baldrien stammen. Aber wie war das nur möglich? Gustel, den mächtigen Meister der Tore, hatte man seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr gesehen und Luis war erst dreizehn Jahre alt. Er konnte also nicht aus Baldrien stammen, oder? Askan verzweifelte beinahe. Er hatte irgendetwas übersehen. Vielleicht hatte sich der Ishdur auch geirrt und Luis besaß keinerlei magischen Fähigkeiten. Diesen Gedanken schüttelte Askan schnell wieder ab. Ishdur riechen die Magie an jedem Lebewesen. Sie sind in dieser Hinsicht beinahe unfehlbar, dachte Askan. Es muss etwas anderes dahinterstecken.

„Geht es um den Jungen?", fragte Margie und riss Askan aus seinen Grübeleien. „Ja", antwortete er wahrheitsgemäß.

Margie nickte kurz. „Weißt du schon auf welchem Element seine Magie beruht?". Askan schüttelte enttäuscht den Kopf. Er blickte auf. Margie hatte ihn auf einen Gedanken gebracht.

„Wir müssen zu den Nohorar!", entschied er in diesem Moment. „Sie können uns vielleicht helfen".

Margie erhob sich. „Das ist eine gute Idee. Ihr solltet mit eurer Abreise aber noch ein paar Tage warten, bis es Erik besser geht".

Auch Askan erhob sich von dem Bett. „Danke für deine Hilfe, Margie".

Margie tat seinen Dank mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Ich habe überhaupt nichts gemacht". Sie hatte schon die Klinke der Tür heruntergedrückt, als sie sich noch einmal zu Askan umdrehte. „Rede mit dem Jungen. Er hat viele Fragen".

Chroniken der Hexer IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt