Theo blickte auf die Uhr im Armaturenbrett seines Autos. Es war nun kurz nach sechs Uhr am Abend. Er hoffte inständig, dass Luis nicht den ganzen Nachmittag allein verbracht hatte und Ben bei ihm geblieben war. Immerhin war heute sein dreizehnter Geburtstag und Theo hatte ihm noch nicht gratulieren können. Die Idee, Luis seine Geschenke erst am Abend zu geben, war von Diane gekommen. Theo hätte Luis sein Geschenk gern schon früher überreicht.
„Ich bin so froh, dass wir das Geschäft abgeschlossen haben", verkündete Diane, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.
„Ich auch. Er mochte dich", antwortete Theo. Er freute sich, wenn er Diane ab und zu bei ihrer Arbeit helfen konnte. Dadurch fühlte er sich gebraucht und wozu hatte er jahrelang Kontakte zu Käufern geknüpft, wenn sie ihm nun nichts mehr nutzten. Die Käufer konnte er genauso gut an Diane weitervermitteln.
Theo mochte Diane unglaublich gern.
Sie erinnerte ihn ein wenig an seinen Sohn Stellan.
Er war genau wie sie gewesen. Er hatte sich für alles begeistern können und die Welt durch seine Augen als Ort der Abenteuer und Möglichkeiten gesehen. Theo fühlte in diesem Moment, so wie jeden Tag, wenn er an seinen Sohn dachte, ein schmerzliches Stechen in der Brust.
„Ich hatte zunächst Zweifel, weißt du", gab Diane zu. „Immerhin sind viele deine Käufer von der älteren Schule und nehmen eine Frau in diesem Beruf nicht ernst".
Theo blickte sie kurz von der Seite an und legte seine Hand auf ihre.
„Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass du diesen Auftrag bekommst. Selbst der größte Skeptiker, würde innerhalb von wenigen Sekunden deine Kompetenz und Professionalität erkennen".
Diane lächelte ihn dankbar an.
Sie seufzte. „Ich hoffe Luis ist nicht enttäuscht von mir. Manchmal habe ich Angst, er könnte denken mein Beruf wäre mir wichtiger als er", gestand sie. „Aber das ist nicht so. Ich würde alles für ihn tun".
„Das weiß er", antwortete Theo beruhigend.
Luis war ein kluger und sensibler Junge. Er wusste, wie sehr seine Mutter ihn liebte.
Theo seinerseits liebte niemanden auf der Welt so sehr wie seinen Enkelsohn. Diese unbeschreiblich starke Liebe hatte er schon gefühlt, als er Luis das erste Mal vor dreizehn Jahren in den Armen gehalten hatte. Er war unglaublich stolz auf ihn und versuchte es ihm jeden Tag zu zeigen.
Theo bog von der Hauptstraße aus rechts auf den kleinen Feldweg ab, der zu seinem Haus führte.
Nach ein paar Metern, kurz vor dem Eisentor, lief ihnen in der Dunkelheit eine Gestalt entgegen, die wild mit den Armen in der Luft herumfuchtelte.
„Wer ist das denn?", fragte Diane.
Theo kniff die Augen zusammen und drosselte die Geschwindigkeit seines Autos auf ein Schritttempo herunter. Dann erkannte er die Person.
„Hilda!", rief er aus und hielt an.
Hilda kam schwer atmend auf das Auto zugelaufen und riss die Fahrertür auf. Sie versuchte etwas zu sagen, doch durch ihre Luftnot konnten Theo und Diane kaum etwas verstehen.
Theo stellte den Motor des Autos aus, schnallte sich ab und stieg aus. Er griff nach Hildas Händen, die unnatürlich kalt waren.
„Beruhige dich doch", sagte er. „Was ist passiert?".
Hilda blickte in Theos Augen, während sich ihre mit dicken Tränen füllten.
„Luis und Ben! Sie sind verschwunden", erklärte sie aufgebracht.
Diane, die ebenfalls aus dem Auto ausgestiegen war, kam stolpernd auf Hilda zugelaufen.
„Was ist passiert? Wo ist Luis?", fragte sie und ihre Stimme zitterte. „Warum hast du uns nicht angerufen?"
Hilda schniefte laut. „Ich habe es versucht, aber die Leitung war besetzt! Wir müssen zu Herrn Kowalski. Die Polizei ist bereits da. Sie wird euch alles weitere erklären".
Als Theo gemeinsam mit Diane und Hilda das alte Waisenhaus betrat, befürchtete er bereits das Schlimmste. Luis war kein Junge, der einfach von zu Hause weglaufen würde und auch Ben würde seine Mutter niemals im Stich lassen. Das wusste Theo sicher.
Diane hatte sich an seinem Arm untergehakt und Theo spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte. Er wusste, dass auch sie bereits das Schlimmste befürchtete.
Sie wurden empfangen von einem beleibten Polizisten im mittleren Alter, der ihnen allen die Hand zur Begrüßung reichte.
„Guten Abend", sagte er.
„Was ist passiert?", fragte Diane sofort. „Wo ist mein Sohn?"
Der Polizist atmete tief ein und pustete die Luft lautstark wieder aus.
„Meines aktuellen Wissensstandes nach, ist Ihr Sohn Luis heute gegen vierzehn Uhr gemeinsam mit seinem Freund Ben Petrie in dieses Haus eingebrochen. Entwendet haben sie, laut Aussage des Hauswächters nichts".
Herr Kowalski kam plötzlich die Treppe zum zweiten Stockwerk herunter und blieb vor ihnen stehen.
„Geklaut haben sie nichts", sagte er. „Aber beleidigt haben sie mich, diese Biester!".
„He!", Diane trat vor und fuchtelte mit erhobenem Finger vor seinem Gesicht herum. „So reden Sie nicht von meinem Sohn! Er ist ein guter Junge und geht stets respektvoll mit seinen Mitmenschen um".
Der Polizist hob beschwichtigend seine Hände.
„Nun beruhigen Sie sich doch, Frau Freymann". Er wandte sich Herrn Kowalski zu und zog einen kleinen Block und einen Stift aus seiner Brusttasche hervor. „Erklären Sie mir noch einmal den genauen Tathergang", forderte er den alten Mann auf.
„Ich bin um vierzehn Uhr von meiner Wohnung losgelaufen, so wie jeden Tag. Ich drehe dreimal täglich meine Runde durch das Haus, wissen Sie! Also schließe ich die Tür auf und trete in den Hausflur, als ich plötzlich Stimmen aus dem dritten Stockwerk höre. Dann bin ich sofort zu ihnen hoch und die beiden frechen Bengel sind in das einzige Zimmer eingebrochen, das selbst ich noch niemals öffnen konnte. Ich habe einen Generalschlüssel, wissen Sie! Dann haben sie mir tatsächlich die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ich habe gegen die Tür gehämmert und versucht die Tür wieder zu öffnen, doch sie haben die Tür von innen festgehalten! Als wäre das nicht genug, haben sie mich durch die Tür beleidigt und freche Lieder gesungen!".
„Und weiter?", fragte der Polizist, während er sich Notizen in seinem kleinen Block machte.
„Nach etwa fünf Minuten haben sie die Tür losgelassen und ich konnte sie öffnen und bin hereingestürmt, aber die beiden Bengel hatten sich schon lange aus dem Staub gemacht".
Der Polizist wandte sich Diane zu. „Sollten Ihr Sohn oder Ben Petrie in den nächsten Stunden auftauchen, melden Sie sich umgehend bei mir. Hier!", sagte er und zog ein kleines Kärtchen aus seiner anderen Brusttasche hervor. „Meine Visitenkarte".
Diane blickte auf die Karte.
„Das war es jetzt?", fragte sie. „Mein Sohn ist nicht von zu Hause weggelaufen. Ihm muss etwas zugestoßen sein! Sie müssen sofort nach ihm suchen".
„Beruhigen Sie sich, Frau Freymann", wiederholte der Polizist, wie einen auswendig gelernten Satz, den er auf der Polizeischule gelernt hatte. „Wir tun was wir können. Aber ein Junge seines Alters, läuft erfahrungsgemäß häufiger von zu Hause weg. Machen Sie sich keine Sorgen".
Er tätschelte unbeholfen Dianes Arm, drehte sich um und verließ das Haus.
Theo legte seine Hand auf Dianes Rücken und zog sie mit sich auf die Tür zu. „Komm", sagte er. „Wir können im Moment nichts tun. Luis und Ben werden bestimmt heute Abend wieder auftauchen".
Er trat zur Seite um erst Diane, dann Hilda und zuletzt Herrn Kowalski durch die Tür gehen zu lassen, als ihm plötzlich etwas ins Auge fiel.
Direkt neben der Eingangstür des Hauses lag auf dem Boden eine kleine geschnitzte Holzfigur, die aussah wie ein Krieger.
Er bückte sich, hob sie auf und ließ sie in seine Hosentasche gleiten, ohne dass die anderen davon etwas bemerkten.
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Chroniken der Hexer I
FantasíaLuis Freymann ist eigentlich ein ganz normaler Junge, der mit seiner Mutter Diane und seinem Großvater Theo in dem ruhigen Ort Falkenstein lebt. An seinem dreizehnten Geburtstag begibt er sich gemeinsam mit seinem besten Freund Ben in das alte und v...