Luis öffnete langsam die Augen. Er hatte wirre Träume gehabt, von einem Mann in einem Baum mit dem Namen Gustel und von einem Abgrund unter seinen Füßen, in den er hineingefallen war. Um ihn herum war es dunkel. Er konnte nichts sehen. War er tatsächlich irgendwo hineingefallen? Er dachte einen Moment nach.
BEN!
Er war bei ihm gewesen. Sie hatten in dem alten Waisenhaus bestimmt ein Loch übersehen und waren hineingestürzt.
Hoffentlich war Ben nicht verletzt. Er musste ihn suchen, doch er konnte nichts sehen. Alles um ihn herum war dunkel.
Plötzlich fiel ihm die Taschenlampe in der Tasche seiner Jeanshose wieder ein, die er im dritten Stock des Waisenhauses nicht benutzt hatte. Er drehte sich auf den Rücken, zog die Taschenlampe aus der Hosentasche und knipste sie an. Er setzte sich auf und blickte sich um. Neben ihm auf dem Boden lag sein bester Freund.
„Ben!", rief Luis laut aus.
Er rührte sich nicht. Luis krabbelte vorsichtig zu ihm und atmete erleichtert auf. Ben atmete noch.
Luis musste dringend herausfinden wo sie waren und Hilfe holen. Er dachte an sein Handy, das er zu Hause auf dem Esszimmertisch hatte liegen lassen.
Großartig, Luis. Auf dem Esszimmertisch nützt es dir nichts!
Er blickte sich erneut um und stellte fest, dass Ben und er in einer Art Höhle gefallen zu sein schienen. Die Felswände waren feucht und hoch.
Er blickte nach oben. Der Schein der Taschenlampe reichte nicht aus. Luis konnte nicht sehen, wie weit die steinigen Wände nach oben ragten. Wie tief sie wohl gefallen waren?
Plötzlich hörte er Stimmen. Da ging es ihm plötzlich auf. Ben und er mussten in irgendeinen unterirdischen Schacht gefallen sein, der unter dem Waisenhaus lag.
„Hilfe!", rief er laut. Er hoffte, dass in diesem Schacht vielleicht Bauarbeiter waren, die ihnen schnell helfen konnten.
Die Stimmen verstummten augenblicklich.
Gott sei Dank dachte Luis. Sie können mich hören
Er nahm seine ganze Kraft zusammen und rief erneut. „Hilfe!".
Er sah Schatten an der Wand. Die Arbeiter schienen näher zu kommen.
„Ich dachte hier unten wäre die Luft rein, Askan!", sagte eine raue Männerstimme vorwurfsvoll.
„Caio hat mir gesagt, dass die Kerker hier unten seit Jahren nicht mehr genutzt werden!", gab eine andere tiefe Männerstimme genauso vorwurfsvoll zurück.
„Seid ruhig!", sagte nun eine dritte Männerstimme. „Wegen euch fliegen wir noch auf".
Die Männer traten aus dem Schatten heraus und kamen näher. Sie trugen Fackeln bei sich und die Höhle wurde sofort taghell. Luis knipste seine Taschenlampe aus und wollte sie zurück in seine Hosentasche stecken, doch seine Hände zitterten so stark, dass sie ihm aus der Hand rutschte, über den Boden kullerte und in einen kleinen dunklen Spalt fiel.
„So ein Mist!", fluchte er leise.
Der Mann, den Luis zuerst entdeckte trug einen langen, schwarzen Kapuzenmantel. Er war sehr groß, hatte rabenschwarzes Haar und eine schlanke Statur. Der zweite Mann trug abgewetzte Kleidung aus Stoff. Er hatte einen ungepflegten Vollbart und eine große Narbe im Gesicht, die sich von seinem linken Auge herunter bis zu seiner Oberlippe zog. Das Aussehen des dritten Mannes, den Luis zuletzt erblickte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Sein Gesicht war so weiß, wie das eines Geistes. Er hatte weiße Haare und unnatürlich helle Augen. Diese Männer waren ganz offensichtlich keine Bauarbeiter.
Die Männer blieben vor Luis und Ben stehen und blickten auf sie hinab. Luis kroch ein wenig näher an Ben heran und legte seine Arme schützend über ihn. „Bitte tut uns nichts", keuchte er leise. „Wir waren vorhin im alten Waisenhaus und sind dann durch ein Loch im Boden gefallen. Ich weiß nicht, ob mein Freund verletzt ist. Hat jemand von euch ein Handy dabei? Ihr müsst die Polizei rufen!". Die drei Männer blickten sich ratlos an.
Der mit dem weißen Gesicht zuckte mit den Schultern.
„Nach wem sollen wir rufen?", fragte er an die anderen beiden gewandt. „Was ist eine Pollozei?"
Die anderen zuckten ebenfalls mit den Schultern. Der Mann mit dem Vollbart und der Narbe, zog ein kleines Messer aus seiner Tasche. „Wir sollten sie töten!", sagte er zu den anderen.
Luis erschrak. Waren sie Diebe? Wollten sie jemanden ausrauben? Mörder? Entführer? Er hielt seine Arme weiterhin schützend über Bens reglosen Körper. „Nein. Bitte nicht. Wollt ihr Geld haben? Wir haben nichts".
Der mit den rabenschwarzen Haaren lächelte ein wenig. Er sah jünger aus als die anderen beiden. Er blickte auf Luis herab. „Nein. Es sind nur kleine Jungs, Erik. Wir sollten sie mitnehmen. Vielleicht gehören sie zu Amons Gefolgschaft. Sie könnten nützlich für uns sein".
Luis versuchte aufzustehen, doch der Mann mit dem Bart drückte ihn mit seinem Stiefel wieder herunter, so dass er sich nicht mehr rühren konnte.
„Ich kämpfe mit euch, wenn es sein muss!", rief Luis, der angesichts der Hilflosigkeit seines besten Freundes, wütend wurde.
Der Mann mit dem rabenschwarzen Haar lachte vergnügt. „Der Kleine gefällt mir!", sagte er. „Wir sollten sie mitnehmen".
Der Mann mit den weißen Haaren, Eskil, schnaubte. „Und wie sollen wir das anstellen, Askan? Wir sind meilenweit von Ensgard entfernt. Wir nehmen keine Gefangenen".
Gefangene? Ensgard? Irgendetwas in Luis regte sich. Diese Männer waren irre. Er musste Ben und sich unbedingt retten, bevor es zu spät war.
Er überlegte nun fieberhaft.
Ben und er brauchten dringend Hilfe.
Diese verrückten Typen würden sie noch umbringen. Er war nicht schnell genug, um vor ihnen wegzulaufen und er wollte Ben nicht zurücklassen. Wer wusste schon, was diese Typen mit ihnen anstellen würden. Also beschloss Luis das Einzige zu tun, was ihm in seiner ausweglosen Situation vielleicht helfen könnte.
Er würde um Hilfe rufen.
Irgendjemand würde ihn schon hören.
Er nahm seine Kraft zusammen und rief laut nach Hilfe.
Der Mann mit dem Vollbart und der Narbe, Erik, fluchte laut auf.
„Wirst du wohl ruhig sein", zischte er Luis zu. „Wir werden noch entdeckt!". Doch Luis dachte nicht daran ruhig zu sein. Er brüllte weiterhin aus vollem Halse.
„Er hört nicht auf", sagte der Mann mit den schwarzen Haaren, Askan, verzweifelt.
„Schlag ihm auf den Kopf!", schlug der Mann mit dem Vollbart, Erik, vor.
„Ich schlage ihm doch nicht auf den Kopf", sagte Askan empört.
Erik grinste breit. „Du schwingst doch sonst immer so große Reden, Askan!". Er hob die Hände in die Luft und imitierte Askans Stimme.
„In Hangar nannten mich die Damen immer den Schädelspalter!".
Askan schnaubte. „Das habe ich nie gesagt, Erik".
Erik zuckte mit den Schultern. „Dann schlag ihm auf den Kopf, du Schädelspalter!".
„Ich schlage ihm nicht auf den Kopf!".
Luis spürte einen dumpfen Schlag auf den Kopf und verlor erneut das Bewusstsein. Das letzte, was er hörte, war die Stimme von dem Mann mit dem weißen Gesicht, Eskil, der sich darüber beschwerte, dass er immer alles selbst machen müsse.
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Chroniken der Hexer I
FantasyLuis Freymann ist eigentlich ein ganz normaler Junge, der mit seiner Mutter Diane und seinem Großvater Theo in dem ruhigen Ort Falkenstein lebt. An seinem dreizehnten Geburtstag begibt er sich gemeinsam mit seinem besten Freund Ben in das alte und v...