Prolog

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vor fünfzehn Jahren

Raphaels Sicht

Unsere zehn Füße baumeln nebeneinander in der Dunkelheit. Die sonst so grellen Farben sind im Schein der schmutzigen Straßenlaternen kaum noch zu erkennen, so düster hängt die schwüle Abendluft über uns. Der Mond strahlt beinahe so hell wie die Sonne heute Mittag, als wir im Pool von Jannis Wettrennen gemacht haben und später einen Hochsprungwettbewerb auf meinem riesigen Trampolin gemacht haben. Grinsend denke ich an unser Gekicher und die Sonne auf meiner Haut, die jetzt kalt ist. „Meint ihr, sie merken was? Waren wir vielleicht doch zu laut?", bricht Marvin die Stille. Sofort kralle ich mich fester in das kalte Klettergerüst, auf dem wir nebeneinandersitzen. „Quatsch", Eden schüttelt entschlossen ihren Kopf, sodass mir ihre langen roten Haare ins Gesicht wirbeln; ich kichere und stupse sie an. Und ich hoffe, dass sie recht hat. Denn eigentlich sollten wir uns in ihrem und Maze' Garten im Baumhaus befinden, das die Stiefgeschwister vor einem Jahr zum Schulanfang geschenkt bekommen haben. Stattdessen verärgern wir unsere Eltern, falls sie herausfinden, dass wir heimlich hier sind. Auf dem Spielplatz, mitten in der Nacht. Seit wir einmal beobachtet haben, dass hier auch Ältere sind, wollten wir auch unbedingt herkommen. Nachts. „Ich glaube, die haben nichts gemerkt. Wir waren ganz leise", flüstert Maze und kämmt sich sein längeres Haar hinters Ohr. Mutig, ich würde niemals die Stange unter mir loslassen. Sofort pocht mein Herz wieder schneller, wenn ich daran denke. „Und wenn nicht? Ich will nicht wieder Hausarrest bekommen", mault Jannis und versetzt einem der Pfosten einen Tritt. So stark, dass ich es vibrieren spüre. Betreten schweigen wir anderen vier. Er hat echt die strengsten Eltern – und ich habe die besten. Umso weniger möchte ich meine ärgern. „Wir können ja auch zurück ...", schlage ich deshalb vor und lächele die anderen zaghaft an. Als Angsthase möchte ich aber auch nicht gelten. „Vielleicht wäre das besser?", erwidert Jannis und nickt mir dankbar zu. Marvins Bauch grummelt laut, sodass wir lachen. „Ich hab Hunger, das ist keine Angst. Dabei hab ich keine Angst. Trotzdem bin ich auch dafür, dass wir zurückgehen", redet Marvin wieder ein bisschen wirres Zeug. Und ich weiß, dass er sich ebenfalls ein wenig fürchtet. „Aber wir sind doch alle zusammen", murmelt Maze aufmunternd und lächelt uns an, zumindest glaube ich das. Seine Schwester ist aber noch mutiger als er, schon fast furchtlos. „Habt ihr etwa Angst, Jungs? Wir können auch später noch ins Baumhaus und schlafen. Das hier ist die einmalige Gelegenheit!", ruft Eden auch und richtet sich langsam auf. Panisch will ich nach ihr greifen, doch sie zieht ihre Hand weg und streckt sie von sich, als würde sie fliegen. Dann stellt sie sich mit ihren roten Turnschuhen auf das dünne Gerüst. Jetzt baumeln nur noch acht Füße nebeneinander. Meine gelben, Maze' blaue, Jannis' grüne, Marvins orangene. Ein kleiner Regenbogen. „Oh mein Gott, setz dich wieder hin!", zischt Jannis und streckt auch die Hand nach ihr aus, obwohl er viel zu weit weg sitzt. „Das ist mindestens zehn Meter tief!", in Marvins Gesicht steht pure Angst geschrieben. Nervös beißt er sich auf seine dicken Lippen und rutscht näher an einen Pfeiler im Boden, den er umschlingt. „Meine Eltern sagen, dass das nur zwei Meter sind", verbessere ich ihn aus Versehen. Als er mich verwirrt anschaut, wippe ich schnell mit den Füßen. „Na los, kommt. Ihr habt Angst! Meine besten Freunde sind alle Angsthasen!", ruft Eden und lacht laut, als sie ein paar Zentimeter balanciert. Ihre Hose ist noch ganz dreckig und ihr T-Shirt flattert um ihren dünnen Körper. „Nein", Maze lässt sich von seiner Schwester herausfordern und rutscht langsam über den Rand hinaus, um sich fallen zu lassen und mit den Händen die Stange zu umklammern. Seine Knöchel treten sofort hervor, als er anfängt, sich herumzuhangeln. Die Malone-Geschwister veranstalten eine kleines Fangspiel in der Dunkelheit, einmal im Kreis von dem ganzen Klettergerüst. Ich glaube, Maze versucht Edens Füße zu berühren, aber sie verschwimmen im Dunkeln. „Was machen wir, wenn sie runterfallen und sterben?", raunt Marvin uns zu. Ich schaue bestimmt entsetzt und blicke Jannis an, der ebenfalls die Stirn runzelt. „Da stirbt man nicht, Dummkopf", seufzt er dann nur und klopft dem Dummkopf auf die Schulter, ich lache leise. Marvin erwidert etwas, das ich nicht mehr wahrnehme. Meine Aufmerksamkeit richtet sich stattdessen auf die Schatten hinter dem Feld. Das Feld, auf dem wir im Frühling immer Fußball spielen und im Sommer ein kleines Labyrinth daraus wird, weil die Gräser so hoch sind. Aber nicht so hoch, dass ich die drei Gestalten nicht bemerken würde. Zwar brauche ich in der Schule eine Brille, aber die Umrisse sehe ich. Mit angehaltenem Atem verfolge ich die schwarzen Schatten, bis sie sich ins Feld schleichen. Ich höre ihr Lachen, das dunkler und tiefer ist als das von Eden und Maze. Sogar als das von Marvin und Jannis, die noch immer diskutieren. Niemand außer mir bemerkt die Fremden. Mein Herz schlägt schneller, als müsste ich an die Tafel kommen und vorrechnen, weil ich wie immer als Erster fertig bin. „He, Leute", wispere ich. Keine Antwort. Vielleicht war ich zu leise. „Heee", versuche ich es erneut. Als sie mich nicht bemerken, rutsche ich vorsichtig am Rand entlang direkt neben Jannis, der schimpft, als ich ihn anrempele und er fast herunterfällt. „Raph! Bist du irre?!", faucht er und tritt mir sanft gegen die Schuhe. Ich weiß, dass er in ein paar Sekunden wieder lachen wird und mir verziehen hat. „Oh, fallt ihr gleich runter?", witzelt Marvin und umarmt noch immer den Pfosten. Ich seufze und beuge mich noch näher zu ihnen. „Da ist jemand", flüstere ich bedeutungsvoll. „Was? Wir werden beobachtet?", Jannis' Stimme klingt hoch. Wie jemand, der wieder Angst hat. „Wo?", Marvin reckt den Kopf. Bei ihm ist das gar nicht nötig, er ist mit Abstand der Größte von uns allen. Und ich leider der Kleinste. Sogar Eden ist größer! „Äh", ich beiße mir auf die Zunge. Die Schatten sind nicht mehr zu sehen. „Hallo?! Ist da weeeeer?", ruft Marvin laut. So laut, dass unsere Eltern es bestimmt hören. „Na toll, jetzt kommen die. Wenn da wer ist", murmelt Jannis und verdreht die Augen. „Bist du bescheuert? Jetzt weiß jeder, dass wir hier sind", vernehme ich Edens Stimme dicht hinter meinem Ohr. Ich zucke zusammen und drehe den Kopf herum, sodass ich in ihr freches Grinsen blicke. Scheinbar hat sie die Jagd mit Maze gewonnen. „Raph hat wen gesehen", erklärt Jannis ungeduldig und wippt mit dem Knie. „Kinder? Erwachsene?", Maze hievt sich wieder auf das Gerüst und schaut sich mit großen Augen um. Jetzt scheint selbst er Panik zu bekommen. „Keine Ahnung", murmele ich. Dass die anderen jetzt alle so erschrocken sind, wollte ich nicht. Aber ich wollte auch nicht mit dem mulmigen Gefühl alleinsein.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt