Kapitel vierzig

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Gabriels Sicht 

Die Nacht ist der Horror. Ich starre mit knackendem Kiefer an die Decke des Kellers. Obwohl hier alles so vertraut ist, fühle ich mich fremd. Und verdammt unwohl, weil ich damit rechne, dass jede Sekunde oben im Club wieder die Musik angeht, Andy oder Felix runterkommen, weil sie etwas vergessen haben oder ich zu spät aufstehe und Patrick bereits morgens zum Training hier runterkommt. Fuck. Was habe ich mir nur dabei gedacht, hier im Club zu schlafen? Aber etwas anderes gibt es nicht. In die Wohnung zu Patrick und Andy kann ich einfach nicht. Zu Felix und Terra will ich nicht, noch nicht, vielleicht, wenn es noch schlimmer wird. Und Mercedes? Das würde ich tatsächlich machen, aber dann ist da noch ihr Freund, der zufällig unfassbar dumm ist, sich leicht ausquetschen lässt und dann noch mit Raphael befreundet ist – nein, das ist auch keine Option. Fluchend strampele ich mich wieder aus dem Schlafsack und stapfe in die Gemeinschaftsduschen, in denen die Lampen und Rohre laut knacken. Seufzend dusche ich, weil ich eh nichts zu tun habe, und lasse mir das kalte Wasser über den Körper laufen, bis ich zittere und nach Luft schnappe. Erst dann verlasse ich die beschissenen Räume wieder, schlüpfe erneut in meine Sachen und fühle mich auch nicht besser. Wie auch? Das hier, das alles erinnert mich an uns. An Patrick und mich. An Felix und mich. Fuck, das sind quasi wir. Hier sind wir seit Jahren, immer. Das hier ist unser Zuhause geworden. Der Ort, an den wir immer gekehrt sind, wenn wir nicht gefunden werden wollten, außer vielleicht noch zum Wald. Hier waren wir, als wir von unseren Erzeugern davongelaufen sind und uns Bodgan sowohl Jobs als auch Wohnungen vermittelt hat. Gott, der wird mich eh umbringen, wenn er mich hier findet. Ich muss hier raus, nur wohin? Hier war bisher mein Leben. Hier ist das Boxen, hier ist die Kunst, hier sind trotzdem noch sie alle. Und gleichzeitig liegt hier die verfickte Vergangenheit – unsere tote Mutter, unser Erzeuger, unsere Taten und Niederlagen. Und Patrick und Felix, fuck, sogar Raphael liegen irgendwo zwischen meiner Identität und meiner Vergangenheit. Oder ist beides dasselbe? „Fuck! Fuck!", verzweifelt stürme ich durch den riesigen Trainingsraum und verpasse jedem Boxsack Schläge und Tritte, bis meine Beine schmerzen und meine Knöchel wieder anfangen zu bluten. Erst dann, als ich nicht mehr kann, lasse ich mich auf meinen Schlafsack fallen – wird das immer so sein? Jeden verdammten Tag? Ich könnte heulen und schreien und kotzen gleichzeitig. Aber das wird nichts bringen, ich bin hier wie gefangen. Ich habe kein Geld, um abzuhauen und keine Kraft, Gott, nicht mal Talent oder eine Fähigkeit, die mir einen anderen Job beschaffen würde. Ich bin einfach nur abhängig von dem Boxen und damit von Patrick. Emotional, finanziell, körperlich – in allem, verdammte Scheiße! Und er tut mir so etwas an! Wütend packe ich mein Handy und will es an die Wand schleudern, als mir ein Anruf ins Auge springt. Hat Raphael etwa ...? Hoffnung, beinahe ein ungewohntes Glücksgefühl, macht sich in mir breit, als ich sehe, wer es bloß ist. Clara. Natürlich, von allen miesen Zeitpunkten sucht sie sich den schlimmsten aus. Genervt lösche ich den Anruf meiner – unserer – Cousine, als sie erneut anruft. Im Ernst? Um drei Uhr nachts? Per Videochat? Schluckend hadere ich, bis ich den Anruf annehme und geblendet werde – sie sitzt in einem pinken Bademantel auf einem makellosen riesigen Himmelbett, ein Kissen im Rücken und eine Schlafmaske mit Katzenmotiv im blonden, nahezu perfekt gestylten Haar. „Gott, du siehst ja beschissen aus", begrüßt sie mich irritiert und runzelt die Stirn, als sie versucht, etwas im Hintergrund bei mir zu erkennen. Nur sieht sie eh nur dunkle Umrisse und mein verzerrtes Gesicht im Halbdunkeln. „Danke, du siehst reizend aus. So unendlich natürlich für jemanden, der geschlafen hat", ich verziehe ironisch das schmerzende Gesicht und warte ungeduldig ab, was sie will. „Danke! Weiß ich. Aber ich musste ja leider aufstehen, da Felix mich milliardenmal angerufen hat. Der hat sogar per Insta und per Whats'App und normal angerufen! Gott, ich dachte, er würde mir mitteilen, ihr wärt gestorben, hättet euch ins Koma gesofffen oder wärt beim Boxen gestorben oder so ...", sie lacht ein wenig und ich frage mich, ob wir echt verwandt sind. Sie ist das High Society-, It- und Modegirl schlechthin. „Tja, ich nehme an, er hat dir erzählt, was passiert ist", ich schnaube und stelle mir vor, wie Felix Clara anruft – da muss er echt verzweifelt gewesen sein. „Oh ja, jedes Detail. Es hat Stunden gedauert! Die suchen dich alle schon seit Ewigkeiten! Und ich meine, Felix hatte recht, aber er ist ja auch der Schlaueste von euch dreien. Also erstens, dass ich nur auf ihn höre und nicht auf Patrick, dem hätte ich echt nicht helfen wollen, wenn ich dir damit schade. Bei euch beiden will ich mich echt nicht entscheiden! Aber wenn Felix mich drum bittet ... und zweitens, dass du nur mich nicht blockiert hast", sie lächelt stolz und seufzt dann mitleidig. „Gabriel, wo bist du? Können wir die Sache abkürzen?", sie seufzt und ich starre sie empört an. „Bist du noch ganz dicht? Du richtest das Felix nicht aus!", fahre ich sie an, sie verdreht die Augen. „Aber ich bin müde! Und ihr müsst euren Streit echt in den Griff kriegen", seufzt sie und verschwindet aus dem Bild ihres I-Pads, dann erscheint sie mit einem Donut, in den sie herzlich beißt. „Hä?", ich ziehe die Augenbrauen hoch und lehne mich an die Wand. Gott, ich bin echt bekloppt, dass ich überhaupt mit ihr telefoniere. „Na, ich denke, das Gespräch wird länger dauern, wenn du so stur bist. Also stärke ich mich, während du nochmal alles erzählst. Und bitte ganz von vorne, also das, was ihr nicht schon in Paris erzählt habt und das, was Steph nicht weiß. Na, halt alles! Also ich weiß schon, was in eurem Streit zu dritt passiert ist, aber erzähl mir, wie es dir mit allem geht oder was Felix nicht verstanden hat", fordert sie mit pinken Streusel auf den perfekten weißen Zähnen, ich seufze und fahre mir übers Gesicht. „Sicher? Es wird echt scheiße lang und kompliziert und es sind gefühlt hundert Menschen beteiligt", brumme ich und sehe meine Cousine erschöpft an. Sie nickt nur eifrig und lächelt aufmunternd: „Na los, es kann befreiend zu sein, mit jemandem zu reden, der nicht dabei war. Und trotzdem kenne ich einen Großteil von ihnen. Schon vergessen? Ich kenne Terra vom Videochat und mit so vielen anderen – wie Andy, leider – bin ich zur Schule gegangen!" Fuck. Das machtes nicht besser, dass sie High Five, wie sie sich nennen, kennt.

Repressed Colours (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt