Raphaels Sicht
psychologistandoptimist: na, wie war dein Tag? Hast du heute Abend noch Zeit für eine Serie, Engel? XD
Eine Minute vergeht. Zwei Minuten vergehen. Drei. Braun ist online, aber öffnet die Nachricht nicht. Bevor ich sie zurückrufen kann, liest er sie. Aber es erscheint nicht sofort eine Antwort. Ich beiße mir auf die Lippen und tigere nervös im Wohnzimmer auf und ab. Die anderen schauen erwartungsvoll. Es ist das erste Mal, dass sie dabei sind, wenn ich ihm schreibe. Aber nicht etwa um mitzulesen, sondern weil sie eigentlich noch gemeinsam etwas schauen wollen. Nur falls er jetzt antwortet, darf ich nach oben und mich aus der Runde ausklinken. Andererseits möchte ich nicht alleine nach oben, wenn die anderen vier über den Tag ratschen und Zeit zusammen verbringen. „Ich finde es gut, dass er nicht antwortet. Dann hast du endlich mal Zeit für uns", grinst Marvin und schlürft laut aus seiner Fanta-Flasche, ich schmunzele. „Wir haben heute den ganzen Tag gemeinsam verbracht", stöhnt Jannis und klickt auf der Fernbedienung unseres riesigen Fernsehers herum, „also ich hab nichts dagegen, wenn wir alle gleich hoch gehen. Ich will noch duschen und vielleicht kann ich dann noch am neuen Projekt arbeiten." Ach ja, Jannis hilft ja seinen Eltern in der Firma, damit wir immer wieder Urlaube spendiert bekommen. Doch die meiste Zeit tut er glaube ich nur so. „Auch wieder wahr, auf mich warten noch die Hausaufgaben aus BWL und dann soll ich noch über ein Konto gucken", stimmt Maze ihm zu. Er ist seinem – und Edens, das sollte man nicht vergessen – Vater verfallen und ist wirklich öfter in der Bank. Dafür bin ich ihm auch unendlich dankbar, schließlich könnten wir hier sonst nicht so leben, aber er liebt dieses Zeug auch. „Das ist nicht euer Ernst! Ich dachte, wir talken mal so über den Tag. Wie es mit Iasmin läuft, ob sie Jannis verziehen hat und was zwischen Maze und Deli so geht. Oh und was Raph so mit diesem Gab getrieben hat", redet Marvin darauf los und angelt nach der Nachos-Packung, die wir nach dem See noch gekauft haben. Der Tag ging erstaunlich schnell vorbei, denn unsere Nachbarinnen wollten noch Deko besorgen und essen gehen, um sich noch näher kennenzulernen. Das Paar hatte nicht allzu lange Bock auf uns, vor allem Levin nicht, der eigentlich längst aus dem Uni-Alter raus ist und Kinder unterrichtet. Nur Andy und die Jungs sind noch etwas geblieben, bis sie sich auch auf den Weg gemacht haben. Edens Stimmung nach zu urteilen findet sie es komisch, dass sich alles ein wenig gekehrt hat. Und das in so kurzer Zeit! Bereits jetzt gehört Andy beinahe mehr zu den drei Kerlen und ist mit ihnen gefahren – andererseits gehört Eden auch mehr zu uns als zu ihrer besten Freundin, die eben keine Schwester für sie ist so wie wir quasi ihre (nervigen) Brüder sind. „Knickt das mit Iasmin und mir", faucht Jannis nur. Es fehlt nicht mehr viel und er plustert sich auf oder läuft knallrot an. Aber seine Blicke sind für uns alle eindeutig – nicht zuletzt wie er Iasmin heute nach dem Spiel für den Bronze-Sieg auf eine zuckerfreie Limo eingeladen hat. Hallo, geht es noch eindeutiger? Jannis feiert nicht einmal bei Silber, dazu muss er schon der goldene Sieger sein. „Deli ist süß, aber – ich finde auch, dass wir Raph zuerst fragen sollten, schließlich hat er gerade zwei Typen an der Angel", redet Maze sich ebenfalls raus und geht in Deckung, als ich ihm ein Sofakissen entgegenwerfe. „Ich hab überhaupt nicht zwei Typen an der Angel! Weder den einen noch den anderen! Dieser Gab ist heiß, okay, aber definitiv nicht an mir interessiert! Und ich auch nicht wirklich an ihm, er ist nur – wenn wir uns berühren, dann ist da etwas. Vielleicht aber auch nur wegen damals. So etwas Ähnliches wie das Stockholm-Syndrom nur eben auf einen Dosenwurf bezogen", plappere ich los. Dabei spüre ich, wie meine Wangen rot werden. Ich gebe es ja zu, es war schön, auf seinen Schultern zu sitzen und sein Haar zu streifen oder das Tattoo auf seiner Haut, das war alles – das hat alles einfach nur einen Druck in meinem Bauch erzeugt und mich dumm grinsen lassen. Aber mehr auch nicht. Kopfschüttelnd tue ich die Erinnerung ab; ich will nicht wieder imaginär sein unterdrücktes Grinsen vor mir sehen oder die leuchtend blauen Augen, die mich herausfordernd angefunkelt haben, als ich aus dem gleichfarbigen Wasser aufgetaucht bin, nachdem ich von ihm runtergefallen bin. Er wollte ja nicht einmal, dass wir in einem Team sind. Nur wieso hat er dann klarstellen wollen, dass ich auf ihm saß? Nichts anderes. Als hätte er kurz falsch gedacht, genau wie mit der Badehose. „Vielleicht ist das aber auch seine Art." Ups, habe ich das laut gedacht? „Was?", hakt Eden nach. Sie schaut verdammt bohrend und legt neugierig den Kopf schief, ich räuspere mich. „Nichts, vergesst es. Und hört mit diesem blöden Geshippe auf, ich möchte von keinem von beiden etwas. Wenn überhaupt möchte ich diesen Chat-Typen näher kennenlernen, um herauszufinden, was genau das ist. Aber selbst wenn es etwas sein sollte, wird er das anders sehen. Also, bitte, steigern wir uns da nicht rein! Sobald ihr mich einmal auf den Trichter gebracht habt, interpretiere ich viel zu viel rum und male mir lauter Zeug aus, das eh nichts bringt!", steigert sich meine Lautstärke, bis ich verzweifelt lachen muss. Die anderen ebenfalls, vor allem Maze und Marvin nicken verständnisvoll. Das ist ein Thema, das wir schon alle gemeinsam in der Mittelstufe erforscht haben: Man hat selten Erfolg bei seinem Schwarm. Na gut, vielleicht schon, aber nur, wenn man beliebt oder heiß ist: wir also nicht, vor allem ich nicht. Vor allem damals gab es keinen Einzigen an der Schule, der offen zu seiner Homosexualität gestanden hat. Beziehungsweise war ich derjenige im Jahrgang; Mädels gab es da mehr, aber es schien, als wäre es unter ihnen nicht so ein großes Tabu-Thema oder würde gegen irgendeine blöde toxische Männlichkeit sprechen.
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Repressed Colours (Band 1)
RomanceBunt und düster. Warm und kalt. Frei und wild. Treu und loyal. Raphael und Gabriel. (Band 1) Unterschiedlicher könnten ihre Welten nicht sein und doch vermischen sie sich: online und im realen Leben. Das bunte Quintett der besten Freunde Raphael, Ma...